Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

92 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden. 
Füße; die Heidelberger Hochschule gab zuerst den Grundsatz der Glaubens- 
einheit auf. In Leibniz entstand ein Denker, dessen behutsam vermitteln- 
der Geist innerlich schon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und 
der voraussetzungslosen Forschung der deutschen Philosophie die Bahnen 
brach; und bald durfte Thomasius frohlockend rufen: „Ungebundene Frei- 
heit allein giebt dem Geiste das wahre Leben.“ Durch die Verweltlichung 
der Wissenschaften wurde die politische Macht der Kirchen allmählich von 
innen heraus zerstört. Von der Herrschaft, welche die Oberhofprediger 
und Consistorien einst in den lutherischen Reichslanden besaßen, war um 
die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr übrig; das neue 
Beamtenthum stand fest zu der Souveränität des Staates. Zugleich 
wagte Thomasius die deutsche Sprache in den akademischen Unterricht 
einzuführen, und seit alle protestantischen Hochschulen seinem Beispiele 
folgten, sah sich die lateinische Gelehrsamkeit der Jesuiten außer Stande, 
den Wettkampf mit der protestantischen Wissenschaft aufzunehmen; wer 
im katholischen Deutschland nach lebendiger Bildung verlangte, eilte den 
protestantischen Universitäten zu. Wenngleich der Zunftstolz der Gelehr- 
ten, die Roheit der akademischen Jugend noch nicht gänzlich überwunden 
wurde, die erste Brücke zwischen der Wissenschaft und dem Leben der 
Nation war doch geschlagen. 
Zugleich brach für die evangelische Kirche ein neues Leben an, das 
in der jungen Hallischen Hochschule seinen Herd fand und mit der duld- 
samen Kirchenpolitik des preußischen Staates fest zusammenhing. Die 
Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenstreite des Zeitalters der 
Religionskriege. Die Unionsbestrebungen der Calixtiner, die fromme 
Glaubensinnigkeit der Pietisten und die rationalistische Kritik des Thoma- 
sius fanden sich zusammen im gemeinsamen Kampfe gegen die Herrsch- 
sucht des theologischen Buchstabenglaubens. Der über dem Gezänk der 
Glaubenseiferer fast vergessene sittliche Gehalt des Christenthums trat 
wieder in sein Recht, seit Francke und Spener ihre Gemeinden mahnten 
das Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe. Der werk- 
thätige Sinn christlicher Frömmigkeit bekundete sich in der großartigen 
Stiftung des Hallischen Waisenhauses und anderen Werken der Barm- 
herzigkeit; die Predigt des Pietismus sprach zum Herzen und erlaubte 
den Frauen, sich wieder als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen. 
Die Neubelebung des deutschen Protestantismus führte nicht, wie die 
Bestrebungen der holländischen Arminianer und der englischen Latitudi- 
narier, zur Bildung neuer Sekten; sie ging vielmehr darauf aus den 
ganzen evangelischen Namen zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem 
Geiste des ursprünglichen Christenthums zu durchdringen und das Wort 
zu erfüllen: „in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ Nach 
manchen Kämpfen und Verirrungen blieb doch das dauernde Ergebniß, 
daß der deutsche Protestantismus die mildeste, freieste und weitherzigste
	        
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