92 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
Füße; die Heidelberger Hochschule gab zuerst den Grundsatz der Glaubens-
einheit auf. In Leibniz entstand ein Denker, dessen behutsam vermitteln-
der Geist innerlich schon ganz frei war von dem Banne des Dogmas und
der voraussetzungslosen Forschung der deutschen Philosophie die Bahnen
brach; und bald durfte Thomasius frohlockend rufen: „Ungebundene Frei-
heit allein giebt dem Geiste das wahre Leben.“ Durch die Verweltlichung
der Wissenschaften wurde die politische Macht der Kirchen allmählich von
innen heraus zerstört. Von der Herrschaft, welche die Oberhofprediger
und Consistorien einst in den lutherischen Reichslanden besaßen, war um
die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts wenig mehr übrig; das neue
Beamtenthum stand fest zu der Souveränität des Staates. Zugleich
wagte Thomasius die deutsche Sprache in den akademischen Unterricht
einzuführen, und seit alle protestantischen Hochschulen seinem Beispiele
folgten, sah sich die lateinische Gelehrsamkeit der Jesuiten außer Stande,
den Wettkampf mit der protestantischen Wissenschaft aufzunehmen; wer
im katholischen Deutschland nach lebendiger Bildung verlangte, eilte den
protestantischen Universitäten zu. Wenngleich der Zunftstolz der Gelehr-
ten, die Roheit der akademischen Jugend noch nicht gänzlich überwunden
wurde, die erste Brücke zwischen der Wissenschaft und dem Leben der
Nation war doch geschlagen.
Zugleich brach für die evangelische Kirche ein neues Leben an, das
in der jungen Hallischen Hochschule seinen Herd fand und mit der duld-
samen Kirchenpolitik des preußischen Staates fest zusammenhing. Die
Nation war verekelt an dem wüthenden Dogmenstreite des Zeitalters der
Religionskriege. Die Unionsbestrebungen der Calixtiner, die fromme
Glaubensinnigkeit der Pietisten und die rationalistische Kritik des Thoma-
sius fanden sich zusammen im gemeinsamen Kampfe gegen die Herrsch-
sucht des theologischen Buchstabenglaubens. Der über dem Gezänk der
Glaubenseiferer fast vergessene sittliche Gehalt des Christenthums trat
wieder in sein Recht, seit Francke und Spener ihre Gemeinden mahnten
das Evangelium zu leben in gemeiner, brüderlicher Liebe. Der werk-
thätige Sinn christlicher Frömmigkeit bekundete sich in der großartigen
Stiftung des Hallischen Waisenhauses und anderen Werken der Barm-
herzigkeit; die Predigt des Pietismus sprach zum Herzen und erlaubte
den Frauen, sich wieder als lebendige Glieder der Gemeinde zu fühlen.
Die Neubelebung des deutschen Protestantismus führte nicht, wie die
Bestrebungen der holländischen Arminianer und der englischen Latitudi-
narier, zur Bildung neuer Sekten; sie ging vielmehr darauf aus den
ganzen evangelischen Namen zu vereinigen, die Kirche wieder mit dem
Geiste des ursprünglichen Christenthums zu durchdringen und das Wort
zu erfüllen: „in meines Vaters Hause sind viele Wohnungen.“ Nach
manchen Kämpfen und Verirrungen blieb doch das dauernde Ergebniß,
daß der deutsche Protestantismus die mildeste, freieste und weitherzigste