Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Literarischer Nationalstolz. 211 
es giebt nur eine Tugend: sich selbst als Person zu vergessen, und nur 
ein Laster: an sich selbst zu denken. Der also sprach, wußte selber noch 
nicht recht, daß er in seinen herben Mahnungen an die schlaffe Zeit die 
mannhaften Tugenden des alten Preußens verherrlichte. Nur als eine 
kühne Ahnung warf er den Gedanken hin, der mit seinen weltbürgerlichen 
Träumen in schneidendem Widerspruche stand: am letzten Ende sei doch 
der Staat der Träger aller Cultur und darum berechtigt, jede Kraft des 
Einzelnen für sich in Anspruch zu nehmen. 
Also bereitete sich im Schoße der Literatur selber eine neue politische 
Bildung vor. Wer die unheimlichen Widersprüche der deutschen Zustände 
nur flüchtig betrachtete — solche Blüthe des geistigen und solchen Jammer 
des politischen Lebens dicht neben einander — der mochte sich wohl an 
jene Zeiten des makedonischen Philippos gemahnt fühlen, da die Thebaner 
auf dem Grabe griechischer Freiheit, auf dem Schlachtfelde von Chaironeia 
das herrliche Löwendenkmal errichteten und Lykurgos das besiegte Athen 
mit seinen Prachtbauten schmückte: ganz so unsicher wie einst Hellas zwischen 
Persien und Makedonien stand das gedankenschwere Deutschland zwischen 
Oesterreich und Frankreich. In Wahrheit lagen die deutschen Dinge 
keineswegs so hoffnungslos. Der trübselige Spruch, daß die Eule der 
Minerva erst in der Dämmerung ihren Flug beginne, gilt für Hellas, 
nicht für Deutschland. Unsere classische Literatur war nicht das Aus— 
klingen einer alten Gesittung, sondern der vielverheißende Anfang einer 
neuen Entwicklung. Hier faßte kein Aristoteles die letzten Ergebnisse einer 
Cultur, die zu Grabe ging, in einem großen Gedankensysteme zusammen, 
sondern ein junges, in allen seinen Verirrungen lebensfrohes und zukunfts— 
sicheres Geschlecht überraschte die Welt mit immer neuen Entdeckungen. 
Keinen Augenblick ist den geistigen Führern der Nation der Glaube an 
Deutschlands große Bestimmung abhanden gekommen. Trotz ihrer elenden 
Verfassung, sagte A. W. Schlegel, und trotz ihrer Niederlagen bleiben die 
Deutschen doch die Rettung Europas. Im selben Sinne schrieb Novalis: 
während andere Völker in Parteikämpfen oder in der Jagd nach dem 
Gelde ihre Kraft vergeudeten, bilde sich der Deutsche mit allem Fleiße 
zum Zeitgenossen einer höheren Epoche der Cultur und werde im Laufe 
der Zeit ein großes Uebergewicht über die anderen erlangen. Selbst der 
schwermüthige Hölderlin, dem die Ohnmacht der „thatenarmen und ge— 
dankenvollen“ Deutschen am Herzen fraß, rief doch in freudiger Ahnung: 
Oder kommt, wie der Blitz aus dem Gewölke kommt, 
Aus Gedanken die That? Leben die Bücher bald? 
Die Gesinnung der Knechte ist diesem Geschlechte von Dichtern und 
Denkern immer fremd geblieben. Wohl sendete auch Deutschland seine 
Pilger zu dem großen Fremdenzuge, der während des Consulats und der 
ersten Jahre des Kaiserreichs von allen Enden Europas nach Paris 
strömte. Die ersten Kunstschätze der Erde lagen dort aufgespeichert, wie 
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