Heinrich von Kleist. 315
dem verflachenden, gedankenlosen Wiener Leben mehr und mehr ein un—
bedingter Lobredner der guten alten Zeit wurde. Der unerschöpfliche Ge—
staltenreichthum der deutschen Geschichte erlaubte Jedem, wes Sinnes er
auch war, sich für irgend ein Stück der vaterländischen Vorzeit zu er—
wärmen. Die Einen reizte der fremdartige Zauber, die Andern der frische
biderbe Volkston des mittelalterlichen Lebens. Während Fichte seine Hörer
auf die Bürgerherrlichkeit der Hansa und die Schmalkaldener Glaubens—
kämpfer hinwies, verdammte F. Schlegel den „Erbfeind“ Friedrich den
Großen, und der prahlerische Phantast Adam Müller feierte das heilige
römische Reich als den Ausbau der Persönlichkeit Christi.
Noch verworrener wogten die religiösen Stimmungen durch ein-
ander. Zwar die protestantischen K ernmenschen, Schleiermacher, Fichte,
die Gebrüder Grimm, schwankten niemals in ihrer evangelischen Ueber-
zeugung. Savigny aber wurde durch den trefflichen katholischen Theo-
logen Sailer den Anschauungen der vorlutherischen Kirche näher geführt.
Schenkendorf sang verzückte Lieder auf die Königin Maria; der Ueber-
tritt F. Schlegel's und F. Stolberg's zur römischen Kirche warf ein grelles
Licht auf die sittliche Schwäche der noch immer überwiegend östhetischen
Weltanschauung des Zeitalters. Ein finsterer Judenhaß verdrängte die
weitherzige Duldsamkeit der fridericianischen Tage. Mancher unter den
mittelalterlichen Schwarmgeistern meinte in jedem Judengesicht die Marter-
werkzeuge Christi deutlich eingegraben zu sehen. Politischer Haß spielte
mit hinein, da Napoleon geschickt und nicht ohne Erfolg das euro-
päische Judenthum für die Sache seines Weltreichs zu gewinnen suchte.
Alle diese Bestrebungen standen für jetzt in leidlichem Einklang, und der
alte Voß fand noch geringen Beifall, als er mit gesundem Menschen-
verstande und ungeschlachter Grobheit im Namen der protestantischen Ge-
dankenfreiheit die Traumwelt der Romantik bekämpfte. Niemand befand
sich wohler in dem chaotischen Treiben als der lärmende Görres, der
ehrliche Jacobiner in der Mönchskutte, der es verstand zugleich ein Radicaler
und ein Bewunderer des Mittelalters, ein Deutschthümler und ein Ver-
ehrer des römischen Papstes zu sein, immer geistreich, anregend und an-
geregt, sprudelnd von ästhetischen, historischen, naturphilosophischen Einfällen,
aber auch immer befangen in einem rhetorisch-poetischen Rausche. In
einem Entschlusse waren Alle einig: sie wollten ihres deutschen Wesens
wieder so recht von Herzen froh werden, diese heimische Eigenart behaupten
und in voller Freiheit weiterbilden ohne jede Rücksicht auf fremdländische
Weltbeglückung und Weltbeherrschung.
Die politische Leidenschaft der Zeit fand ihren mächtigsten fünstlerischen
Ausdruck in den Werken Heinrich von Kleist's, jenes tief unseligen Dichters,
der alle die Poeten der jungen Generation überragte. Durch die ursprüng=
liche Kraft dramatischer Leidenschaft und leibhaftig wahrer Charakteristik
übertraf er selbst Schiller; doch der Ideenreichthum und die hohe Bildung,