Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Steigende Erbitterung des Krieges. 545 
erschütterte den sittlichen Ernst der Truppen; namentlich die Landwehr 
war oft schwer in Zucht zu halten. Das Plündern wurde fast zur Noth— 
wendigkeit, da die Dörfer allesammt leer standen und die räuberischen 
Russen den preußischen Kameraden wenig übrig ließen. In tiefster Seele 
empört hielt York einmal seinen Tapferen ihre Zügellosigkeiten vor und 
zeigte ihnen das Suum cuique auf seinem Ordenssterne. Napoleon ließ 
im Volke ungeheuerliche Märchen von den Greueln der kinderfressenden 
Fremdlinge verbreiten; er betrachtete die zunehmende Verwilderung des 
Krieges mit cynischem Behagen: um so besser, rief er aus, dann greift 
der Bauer zur Flinte! Das Aergste freilich, was preußische Soldaten 
während dieser letzten wilden Wochen des Krieges verübten, reichte nicht 
von fern an die Unthaten der Franzosen in Deutschland heran; und 
während die napoleonischen Marschälle ihrer Mannschaft mit schmählichem 
Beispiele vorangingen, thaten die preußischen Offiziere und Freiwilligen 
das Menschenmögliche um die Roheit der Masse zu bändigen. Kein ein- 
ziger deutscher General, der nicht mit reinen Händen aus dem reichen 
Frankreich zurückkehrte. 
Genug, bei der ersten Gunst des Kriegsglücks flammte der alte Na- 
tionalhaß wieder auf und die Friedenswünsche verflogen. Mit vollem 
Rechte fühlte Napoleon sich seines Thrones sicher. Von innen heraus 
drohte ihm keine Gefahr. Der Name der Bourbonen war überall ver- 
schollen, bis auf einige royalistische Gegenden des Südens und Westens; 
was über die Tage des Bastillesturmes hinauslag, lebte nicht mehr im 
Gedächtniß dieses durch und durch modernen Volkes. Kam ja einmal 
die Rede auf das alte Königshaus, so dachte der Bauer grollend an den 
Druck der Zehnten und Frohnden. Bernadotte galt allgemein als ein 
elender Landesverräther, und wer sonst sollte noch die Erbschaft des Im- 
perators antreten? Wenn Napoleon die geschlagene schlesische Armee 
unaufhaltsam verfolgte, so stand außer Zweifel, daß die große Armee 
den Rückzug zum Rheine antrat, und dann war ein glorreicher Friedens- 
schluß dem Kaiserreiche sicher. Aber wie Schwarzenberg aus Furchtsamkeit 
die Früchte des Sieges von La Rothiêère zu pflücken versäumt hatte, so 
unterließ jetzt Napoleon aus Uebermuth die Ausbeutung seiner Erfolge. 
Die schlesische Armee besteht nicht mehr — rief er frohlockend; er meinte 
wieder näher an München als an Paris zu sein und vermaß sich bald 
nochmals die Weichsel zu erreichen. Von der sittlichen Widerstandskraft, die 
in Blücher's Hauptquartiere lebte, ahnte er noch immer nichts. Statt diese 
gefährlichsten Feinde bis zur Vernichtung zu bedrängen, warf er sein Heer 
plötzlich südwärts an die Seine, schlug einige vereinzelte Corps der großen 
Armee, zwang den Kronprinzen von Württemberg, die steilen Abhänge des 
Seinethals bei Montereau zu verlassen und bewirkte in der That, daß 
der erschreckte Schwarzenberg mit seinem ungeheuren Heere an der Seine 
aufwärts zurückwich und an Blücher dringende Bitten um Hilfe sendete. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. J. 35
	        
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