Wendung der preußischen Politik. 639
Leider führte der König sein gutes Werk nicht ganz zu Ende. Ihm
genügte, daß er den Bruch mit Preußens natürlichem Bundesgenossen
abgewendet hatte; das Weitere überließ er, nach seiner schüchternen Weise,
dem Staatskanzler. Die Monarchen waren in jenem Gespräche nur
über zwei Punkte übereingekommen: der König wollte, da ihm der Czar
abermals den Besitz von Sachsen verbürgte, der polnischen Königskrone
Alexander's nicht mehr widersprechen, und er verwarf die von Oesterreich
und England verlangte Weichselgrenze als eine übertriebene, für Preußen
selbst nachtheilige Forderung. Doch über die Zukunft des Landstrichs
zwischen Warthe und Prosna gingen die Meinungen noch auseinander,
und es war sicherlich Hardenberg's Pflicht, diese Grenzfrage sogleich durch
vertrauliche Verhandlungen zu erledigen, alle zwischen Rußland und
Preußen noch streitigen Punkte aus der Welt zu schaffen, um dann,
wohl gedeckt durch gegenseitige bindende Verpflichtungen, mit einem ge-
meinsamen Programm den Westmächten und der Hofburg entgegenzutreten.
Der bestimmte Befehl des Königs hatte die Lage völlig verändert; der
Staatskanzler konnte nicht mehr den Vermittler spielen, er mußte Partei
ergreifen. Angesichts der unwahren Winkelzüge Metternich'’s, der sinnlosen
Phrasen Castlereagh's, der offenbaren Feindseligkeit Talleyrand's und aller
kleinen Höfe war Preußen verpflichtet rücksichtslos an seine eigene Siche-
rung zu denken. Dem heuchlerischen Geschrei über den „Verrath an der
Sache Europas“ entging man ja doch nicht mehr.
Außer der von Rußland bereits angebotenen Prosnalinie waren aber
nur Thorn und die benachbarten Gebiete des alten Deutsch-Ordenslandes
für Preußen unentbehrlich. Diese wichtige Position an der Weichsel und
ihr deutsches Hinterland dem großen Vaterlande zurückzugeben blieb aller-
dings eine unerläßliche Aufgabe der nationalen Politik. Schon auf die
erste unbestimmte Nachricht von der bevorstehenden Wiedervereinigung spra-
chen die Aemter Engelsburg und Rheden sofort dem Staatskanzler ihre
herzliche Freude aus und schilderten beweglich, mit wie „unnennbaren
Empfindungen"“ sie durch sieben lange Jahre dicht an ihrer Grenze das
Glück der Preußen gesehen und selber das Joch der fremden Tyrannei
hätten tragen müssen.)) Die Wiedererwerbung dieser treuen deutschen
Lande war, wie der Erfolg gezeigt hat, keineswegs unmöglich, obgleich
Czar Alexander auf das feste Thorn großen Werth legte; man mußte
nur einen klaren Entschluß fassen, auf die rein polnischen Landstriche
um Kalisch und Czenstochau verzichten und vor Allem Oesterreichs An-
sprüche auf Krakau nicht mehr unterstützen. Krakau war, wenn Preußen
die Stadt erlangen konnte, unschätzbar als Grenzfestung wie als Stapel-
platz für den oberschlesischen Handel; die alte Pflanzung des deutschen
Bürgerthums hätte voraussichtlich unter preußischem Scepter bald wieder
ein deutsches Gepräge empfangen. Aber wie die Dinge lagen, stritten sich
*) Eingabe an Hardenberg, 5. Novbr. 1814.