Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Die neue Literatur. 87 
Köpfe fühlen sich als freie Kinder Gottes und flüchten aus der jämmer— 
lichen Wirklichkeit in die reine Welt der Ideale. Große Talente geben 
den Ton an, hundert begeisterte Stimmen fallen ein in vollem Chore. 
Ein Jeder redet wie es ihm um's Herz ist, und befolgt getrosten Muthes 
die frohe Botschaft des jungen Goethe: „denn es ist Drang, und so ist's 
Pflicht!“ und setzt seine volle Kraft ein, als ob das Schaffen des Denkers 
und des Dichters allein auf der weiten Welt des freien Mannes würdig 
wäre, und lebt sich fröhlich aus, wenig bekümmert um den Lohn der 
Arbeit, ganz verloren im Dichten, Schauen und Forschen, beglückt durch 
den überströmenden Beifall warmherziger Freunde, glücklicher noch durch 
das Bewußtsein das Göttliche geschaut zu haben. 
So haben seit dem Jahre 1750 etwa drei Generationen deutscher 
Männer, neben und nach einander wirkend und oft in leidenschaftlichem 
Kampfe mit einander ringend, die jüngste der großen Literaturen Europas 
geschaffen, die, selber vom Auslande lange kaum bemerkt, unendlich em- 
pfänglich den dauernden Gehalt der classischen Dichtung Englands und 
Frankreichs, Spaniens und Italiens in sich zusammenfaßte und schöpfe- 
risch neu gestaltete um schließlich in dem vielseitigsten aller Dichter, in 
Goethe, ihre Vollendung zu finden. Es war eine Bewegung so völlig 
frei, so ganz aus dem innersten Drange des übervollen Herzens heraus, 
daß sie zuletzt bei dem verwegenen Idealismus Fichte's anlangen mußte, 
der den sittlichen Willen als das einzig Wirkliche, die gesammte Außen- 
welt nur als eine Schöpfung des denkenden Ich ansah; und doch ein 
nothwendiges natürliches Werden. Die schöpferische Kraft des deutschen 
Geistes hatte lange gleich einer Puppe schlummernd in zarter Schale 
gelegen, und ihr geschah, wie der Dichter sagte: „Es kommt die Zeit, sie 
drängt sich selber los, und eilt auf Fittichen der Rose in den Schooß.“ 
Ein lauterer Ehrgeiz, der das Wahre suchte um der Wahrheit, das 
Schöne um der Schönheit willen, ward in den hellen Köpfen der deut- 
schen Jugend lebendig. Keine der modernen Nationen hat jemals so in 
vollem Ernst, mit so ungetheilter Hingebung in die Welt der Ideen sich 
versenkt, keine zählt unter den Talenten ihrer classischen Literatur so 
viele reine, menschlich liebenswerthe Charaktere; darum wird das Ge- 
dächtniß der Tage von Weimar unserem Volke in allen Zeiten, da sein 
Gestirn sich zu verdunkeln scheint, ein unerschöpflicher Quell des Trostes 
und der Hoffnung bleiben. Die Kunst und Wissenschaft ward den Deut- 
schen zur Herzenssache, sie ist hier niemals, wie einst bei den Romanen, 
ein elegantes Spiel, ein Zeitvertreib für die müßigen Stunden der vor- 
nehmen Welt geworden. Nicht die Höfe erzogen unsere Literatur, sondern 
die aus dem freien Schaffen der Nation entstandene neue Bildung unter- 
warf sich die Höfe, befreite sie von der Unnatur ausländischer Sitten, 
gewann sie nach und nach für eine mildere, menschlichere Gesittung. 
Und diese neue Bildung war deutsch von Grund aus. Während
	        
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