Schwarmgeisterei. 93
durchzog die Schweiz, das Elsaß und das badische Land um überall zur
Buße zu mahnen und die Armen zu speisen. Obwohl ihre Predigten
ebenso hohl und weinerlich ausfielen wie einst ihr Roman Valerie, so
fand sie doch Anklang bei den Massen; Metternich verklagte sie wegen
Ruhestörung bei ihrem Freunde, dem Zaren Alexander,“) und die badische
Polizei mußte schließlich die Demagogin ausweisen. Die Lust am Wunder—
baren lag in der Luft; die sinnigsten Naturen widerstanden ihr am
wenigsten. Selbst Schleiermachers treffliche Frau mochte den erbaulichen
Verkehr mit einer gesegneten Somnambule nicht entbehren, und ihr Gatte
verhielt sich nicht schlechthin ablehnend.
Ebenso reich an Gegensätzen erschien das Leben der katholischen Kirche.
Die meisten Protestanten wähnten die Macht des Papsttums schon völlig
gebrochen. Wie sollte auch dieser römische Stuhl jemals seine Weltherr—
schaftspläne wieder aufnehmen? war doch erst vor wenigen Jahren die
katholische Kirche in Frankreich allein durch ein Machtgebot der Staats—
gewalt wiederhergestellt, und soeben erst der Pontifex durch die Gnade der
Verbündeten in das Stammgut Petri zurückgeführt worden! Den viel—
geprüften Papst Pius betrachtete man mit einem gemütlichen Mitleid,
das von Geringschätzung nicht frei war; die konservativen Parteien be—
grüßten ihn als einen brauchbaren Bundesgenossen im Kampfe wider die
Revolution. Selbst der Protest der Kurie gegen die Beschlüsse des Wiener
Kongresses störte die Regierungen nicht in ihrer arglosen Sicherheit. In
vollem Ernst erörterte man schon die Frage, ob wohl nach dem Tode
Pius' VII. noch ein neuer Papst gewählt werden würde.
In der Tat lebte die weltmännische Milde der vornehmen Prälaten
des alten Jahrhunderts noch in einem Teile des Klerus fort; wer in
solchen Kreisen verkehrte, mochte leicht zu dem Wahne gelangen, der Hader
der Bekenntnisse werde sich nach und nach von selbst verlieren. Die Bibel—
gesellschaften zu Kreuznach und Neuwied wurden von vielen katholischen
Geistlichen des Bistums Trier lebhaft unterstützt. ) In Breslau pflegten
die beiden theologischen Fakultäten wechselseitig den Disputationen der
„Schwesterkirche“ beizuwohnen, und in Tübingen geschah es noch im Jahre
1828, daß eine Preisaufgabe der katholischen Fakultät von dem evangeli-
schen Theologen David Friedrich Strauß gelöst wurde. Unter Geistlichen
und Laien fand der Febronianische Traum von der deutschen National-
kirche noch immer zahlreiche Anhänger; sehr häufig vernahm man das
Verlangen nach Einführung einer deutschen Liturgie und Abschaffung des
Zölibats. Manche Verteidiger der Staatsallmacht wollten das Territo-
rialsystem des Thomasius auf die katholische Kirche übertragen und die
Geistlichen nur noch als „höchst ehrwürdige Staatsdiener“ behandeln. Der
*) Krusemarks Bericht, Wien, 4. Okt. 1817.
**) Bericht des Oberpräsidenten v. Ingersleben über die Zustände im Großherzog-
tum Niederrhein, 26. Juli 1817.