Der Liberalismus und das Heerwesen. 103
schlusse. Wie die Franzosen allesamt glaubten, sie seien nur der zehn—
fachen Übermacht erlegen, so entstand auch unter den deutschen Unzu—
friedenen alsbald eine ganze Welt wunderlicher Parteimärchen. Rotteck
sprach allen Liberalen des Südens aus der Seele, wenn er zuversichtlich
behauptete, von sämtlichen europäischen Mächten hätten allein die beiden
Verfassungsstaaten England und Spanien, wunderbar gestärkt durch die
Kraft der konstitutionellen Freiheit, dem napoleonischen Weltreiche wider—
standen. Daß auch Rußland die nämliche Widerstandskraft gezeigt hatte,
überging man mit Stillschweigen; denn dieser vor kurzem noch so laut
gefeierte Staat verfiel nach der Stiftung der heiligen Allianz dem leiden—
schaftlichen Hasse des Liberalismus, und mahnend wies Rotteck dem preu—
ßischen Staate die Aufgabe zu, der Freiheit Europas als eine Vormauer
gegen die moskowitische Knechtschaft zu dienen. Um so überschwänglicher
ward die Cortesverfassung von 1812 gepriesen, welche das spanische Volk zu
seinem Heldenkampfe begeistert haben sollte; sie blieb während eines Jahr-
zehntes das Schoßkind der Liberalen, da sie, in Abwesenheit des Mon-
archen entstanden, die Macht der Krone aufs Außerste beschränkte und
mithin dem höchsten Ideale, der Freiheit Amerikas nahe zu kommen schien.
Über den deutschen Befreiungskrieg kam bald eine noch wunder-
samere Erzählung in Umlauf: die verbündeten Fürsten hatten das deutsche
Volk durch den Kalischer Aufruf und die Verheißung einer preußischen
Verfassung mit trügerischen Hoffnungen erfüllt; „gelockt durch so schmei-
chelnde Töne“ — so erzählte Rotteck von der Kalischer Proklamation —
waren dann die Hunderttausende zu den Waffen geeilt! Die Unwahrheit
solcher Behauptungen ließ sich freilich schon aus dem Kalender nachweisen.
Die Verordnung über die künftige Verfassung Preußens war am 22. Mai
1815 unterzeichnet und erst am 8. Juli veröffentlicht, als der letzte Krieg
gegen Napoleon bereits zu Ende ging; von dem Kalischer Aufruf aber
hatte die Masse der preußischen Landwehrmänner wenig oder nichts er-
fahren. Und doch fand das Parteimärchen Glauben, zuerst im Süden,
nachher, als die Stimmung sich immer mehr verbitterte, auch in Preußen
selbst. Man fühlte sich wie verraten und verkauft, man konnte sich den
kläglichen Zustand Deutschlands nach so ungeheuren Opfern nicht anders
erklären, als aus einem großen Betruge; und bald ward jeder als ein
Reaktionär angesehen, der noch der Wahrheit gemäß bekannte, daß die
Preußen sich schlicht und recht auf den Ruf ihres Königs erhoben hatten
um den heimischen Boden vom Landesfeinde zu säubern und die Ehre
ihrer alten königlichen Fahnen wiederherzustellen. Die Verblendeten be-
merkten nicht mehr, welche Beleidigung sie dem preußischen Volke durch
ihre Erfindungen zufügten.
Die Leistungen der Landwehr wurden selbst in Preußen überschätzt; die
Liberalen des Oberlandes vollends erzählten sich bald Wunderdinge von
den Lützowern und den anderen Freischaren, die doch zu den Siegen der