Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

108 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
Zeit des Tilsiter Friedens der Bonapartist Friedrich Buchholz in seinen 
„Untersuchungen über den Geburtsadel“ verkündigt hatte. Wie klang es 
doch so unwiderleglich, wenn dieser politische Nicolai erwies: die Tugend 
vererbe sich nicht, ein Verdienstadel gleich der französischen Ehrenlegion bleibe 
die allein vernünftige Form des Adels: „man kann nicht zugleich Patriot 
und Feudalaristokrat sein.“ Ein alter fridericianischer General von Diericke 
nahm sich in aller Bescheidenheit seiner Standesgenossen an und zeigte in 
seinem „Wort über den preußischen Adel“ (1818), wie viele Söhne des 
geschmähten Junkertums im Lager und im Rat die Größe Preußens 
mitbegründet hatten. Allgemeine Entrüstung empfing ihn, weil man ihn 
nicht widerlegen konnte. In manchen gelehrten Kreisen trat der kindische 
Adelshaß so auffällig hervor, daß die Schüler selbst darauf rechneten: als 
der junge Karl von Holtei in Breslau seine Prüfungsarbeit zu schreiben 
hatte und sich nicht ganz sattelfest fühlte, ließ er weislich das „von“ aus 
der Unterschrift hinweg und beobachtete dann ergötzt, wie die Lehrer die 
Köpfe zusammensteckten und einander dies köstliche Probstück jugendlichen 
Bürgermutes mit befriedigtem Lächeln vorwiesen. Die besonnenen Worte, 
welche Perthes in seinen Briefen „über den Adel“ dem ritterlichen 
Schwärmer Fouqué entgegenhielt, genügten der verstimmten öffentlichen 
Meinung jetzt ebensowenig, wie früher schon die Schriften des bürger- 
freundlichen, aber konservativen Rehberg. 
Es steht nicht anders, das deutsche Bürgertum wurde durch seine 
großen literarischen Erfolge zu einer ähnlichen Selbstüberhebung verleitet 
wie einst der französische Dritte Stand, nur daß sich bei uns der bürgerliche 
Dünkel noch ganz auf den Boden der Doktrin beschränkte. Leichten Herzens 
stellten liberale Zeitungen die Frage: wo sei denn das Unglück, wenn etwa 
der gesamte Adel durch einen allgemeinen Bankrott seinen Grundbesitz 
verlöre und durch neue Eigentümer verdrängt würde? Für die sittliche 
Kraft einer unabhängigen, mit der Landesgeschichte fest verwachsenen Aristo- 
kratie hatte der Rationalismus kein Verständnis. Voß und Rotteck sprachen 
diese radikalen Gesinnungen am aufrichtigsten aus. Bewußt oder unbe- 
wußt verbarg sich dahinter der partikularistische Groll gegen Preußen; 
denn kaum hatte dieser Staat durch sein Volksheer das Vaterland befreit. 
so ward er in Süddeutschland schon wieder als das klassische Land des 
„Junkertums und des Korporalstocks“ verrufen. 
Von solchen Anschauungen erfüllt schrieb Rotteck im Jahre 1819 zur 
Eröffnung des badischen Landtags seine „Ideen über Landstände", das 
wissenschaftliche Programm des neuen Liberalismus. Aus der Natur und 
Geschichte des gegebenen Staates die Forderungen für die Zukunft abzu- 
leiten lag den Liberalen um so ferner, da ihre Bildung noch vollständig 
von der Philosophie beherrscht war und jeder Publizist sich stolz als ein 
Volkstribun des gesamten Deutschlands fühlte. Von dem gemeinen 
deutschen Staatsrechte war in der Anarchie des Deutschen Bundes wenig
	        
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