Der Männergesang. 57
Schweiß des Alltagslebens erhabenen Welt; und neben diesem reichen
Segen kam kaum in Betracht, daß der unbestimmte Enthusiasmus, wel—
chen die gestaltlose Musik erweckt, manchen deutschen Träumer in der
verschwommenen Schwärmerei seiner Gemütspolitik bestärkte.
Das neue Geschlecht hatte doch nicht umsonst seine Kraft in einem
Volkskriege gestählt, und nicht umsonst war während zweier Menschen—
alter, auf jeder Entwicklungsstufe der neuen Dichtung die Rückkehr zur
Natur, zum einfach Menschlichen gepredigt worden. Allenthalben began—
nen die Sitten der Nation wieder mannhafter, kräftiger, natürlicher und,
ohne daß sie es selber noch recht bemerkte, demokratischer zu werden; die
Zeit des Stubenhockens, der ängstlich abgeschlossenen Kasinos und Kränz-
chens neigte sich zum Ende. Seit dem Frieden ward auch das lang ent-
behrte Reisen wieder möglich. Während die reichen Ausländer die große
Tour durch Europa einschlugen, deren romantische Hauptstationen Lord
Byron im Childe Harold vorgezeichnet hatte, suchten die genügsamen
Deutschen mit Vorliebe die bescheidene Anmut ihrer heimischen Mittel-
gebirge auf. Die Felsen des Meißner Hochlands, die der Pfarrer Gö-
tzinger vor kurzem zugänglich gemacht, wurden unter dem Namen der
Sächsischen Schweiz gepriesen; Gottschalcks Führer durch den Harz gab
zuerst Ratschläge für Gebirgswanderungen, und seit Reichard seinen
„Passagier“ veröffentlichte, nahm die Zahl der Reisehandbücher allmählich
zu. Die Reisenden der beiden letzten Jahrhunderte hatten das Menschen-
werk aufgesucht, all das Seltsame und Absonderliche, was im Curieusen
Antiquarius verzeichnet stand; die neue Zeit bevorzugte die romantischen
Reize der malerischen Landschaften und die sagenreichen Erinnerungsstätten
der vaterländischen Geschichte. Das früherhin so beliebte Reisen zu Pferde
kam allmählich ab, infolge der allgemeinen Verarmung. Als Arndt in
seinen jungen Jahren die deutschen Lande zu Fuß durchstreifte, fand er
fast überall nur Handwerksburschen als Reisegefährten; jetzt kam die Poesie
des Fußwanderns auch bei der gebildeten Jugend zu Ehren, und wer ein
rechter Turner war mußte sich auf den Dauerlauf verstehen. Eine neue
Welt unschuldiger Freuden ging der deutschen Jugend auf, seit überall in
Thüringen, Franken und am Rhein zur Sommerzeit fröhliche Scharen
von Studenten oder Künstlern singend ihres Weges zogen. Jede verfallene
Burg und jeder aussichtsreiche Berggipfel ward erklettert; nachts nahmen
die munteren Gesellen gern mit der Streu im Bauernwirtshause vorlieb
oder sie onkelten bei einem gastfreien Pfarrherrn. Mit der Guttarre über
die Schulter wanderte August von Binzer, der Stolz der Jenenser Bur-
schenschaft, glückselig durch ganz Deutschland, und in allen Dörfern strömte
das junge Volk zusammen um dem Spiel und Sang des neuen Trou-
badours zu lauschen.
Auch die politische Gesinnung des heranwachsenden Geschlechts ward
durch dies frohe Wanderleben nach und nach umgebildet. Die Jugend