Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Rückert im Alter. 143 
phanes nach Belieben beschmutzen; daß er sich an einem Volkstribunen 
verging, war unverzeihlich. Grimmige Schriften und Zeitungsaufsätze flogen 
herüber und hinüber. Der Zank ward völlig ekelhaft; die berufene Fehde 
zwischen Voß und Stolberg erschien daneben wie ein liebevoller Gedanken- 
austausch. Als nun gar Börnes Freundin Frau Wohl ihre Briefmappen 
öffnete und geschäftig alles auskramte, was Börne je vertraulich über Heine 
geäußert hatte, da zogen alle Düfte des Ghettos in dicken Schwaden über 
Deutschland hin, und mancher ehrliche Germane begann jetzt erst einzu- 
sehen, vor welchen Götzen er einst gekniet hatte. — 
  
Zeiten des literarischen Kampfes sind der Lyrik selten günstig. Nur 
wenige verstanden wie Rückert den stillen Blumengarten ihrer Dichtung 
vor der schneidenden Zugluft des Tages sorgsam einzuhegen. Die Form- 
losigkeit der Feuilletonpoesie erschien dem Meister der Verskunst ebenso 
verächtlich, wie ihr Gespött und ihre „unzüchtigen Gebärden“ seinen frommen 
Sinn anwiderten. Er wußte, daß alles Menschenleben „von Gott zu Gott“ 
führt, daß die Natur nur die Amme des Geistes ist: „sie nährt ihn, bis 
er fühlt, daß er von ihr nicht stamme.“ Solche Gesinnungen erfüllten 
ihn, als er die geheimnisvolle Welt seiner inneren Erfahrungen und Er- 
lebnisse in der „Weisheit des Brahmanen“ zusammenfaßte. Da schien es 
wohl zuweilen, als ob der Dichter in die beschauliche Ruheseligkeit des 
Orients ganz versänke, aber immer wieder brach der freie Weltsinn des 
Abendländers durch, und hoch über aller Weisheit Indiens stand ihm das 
königliche Gebot der christlichen Liebe. Die Fahrten in das Morgenland 
entfremdeten ihn der Heimat nicht. Mit der alten unverwüstlichen Sanges- 
lust fuhr er fort, sich sein ganzes Leben zum Kunstwerk zu gestalten; jedes 
Begebnis des Tages umspann seine Phantasie mit ihren goldenen Fäden. 
Alles ward ihm zum Gedichte, mochte er nun dem Flüstern des Windes 
lauschen oder seinen Kindern Märchen erzählen, oder seinem Jonathan, 
dem Erlanger Philologen Kopp seinen Haussegen senden. Oft grollte er ins- 
geheim den Landsleuten, weil sie hinter seinen orientalischen Formenspielen 
das weite deutsche Herz, dem nichts Menschliches fremd blieb, schwer er: 
kannten, und auch seine heimatlichen Gedichte nicht sangbar, also nicht 
wahrhaft volkstümlich finden wollten; doch niemals hätte sich sein Künstler- 
stolz herabgelassen, um die Gunst des Haufens zu buhlen. Über den 
Zeitungsruhm der Götzen des Tages sagte er noch im Alter frei und groß: 
Schwalben und Staren 
Fliegen in Scharen. 
Tauben in Lauben 
Wollen sich paaren. 
Einsam der Adler 
Schwebet im Licht, 
Unten die Tadler 
Achtet er nicht.
	        
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