Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Vierter Teil. Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. (27)

Ernst August und Schele. 649 
Wie die neue Verfassung beschaffen sein sollte? — das wußte er 
selbst noch nicht, da er sich um das Land nie bekümmert hatte; genug, 
wenn sie die Macht der Krone befestigte. Ein anderes Recht außer der 
Satzung seines eigenen Willens erkannte der Welfe nicht an. Gegen die 
Verfassungsgesetze von 1814 und 1819 hatte er protestiert — allerdings 
nur heimtückisch, in der Tasche; das Staatsgrundgesetz hatte er nicht 
förmlich angenommen. Folglich hielt er sich an die Gesetze seiner Vor- 
fahren nicht gebunden und rüstete sich wohlgemut zu einem Staatsstreiche, 
dessen Frechheit durch keinerlei Notstand beschönigt werden konnte. Wenn 
der neue König seiner Pflicht gemäß die zu Recht bestehende Verfassung 
beschwor, dann mochte er fast alle seine Wünsche auf gesetzlichem Wege 
durchsetzen. Das Staatsgrundgesetz bestand erst seit vier Jahren und 
hatte noch keine tiefen Wurzeln geschlagen; nicht bloß der Adel murrte, 
auch das Volk fand wenig Freude an den langweiligen, unfruchtbaren 
Landtagsverhandlungen. Die durchaus ergebene erste und die sehr nach- 
giebige zweite Kammer ließ sich zu einigen Verfassungsänderungen sicherlich 
leicht bewegen, und sobald erst ruhig verhandelt wurde, dann mußte der 
geschäftskluge Welfe bald selbst einsehen, daß die Vereinigung der Steuer- 
kasse mit der Domänenkasse, die er jetzt als eine demagogische Neuerung 
verwünschte, nur der Krone selbst Vorteile brachte. Ihn aber verblendete 
die Leidenschaft. Er hatte durch Schele, den Führer der Adelspartei, Wun- 
derdinge gehört über den Radikalismus des Staatsgrundgesetzes, das in 
Wahrheit die Rechte des Königtums sorgsamer schonte als irgendeine 
andere der neuen deutschen Verfassungen, und nannte deshalb den Ka- 
binettsrat Rose den hannöverschen John Russell. Wie er die englischen 
Reformer bekämpft hatte, so hoffte er in Hannover „der Demokratie die 
Flügel zu beschneiden“; und — seltsam genug — bei dem rohen Rechts- 
bruche wirkte auch die bornierte Gewissenhaftigkeit mit. Nach seiner Auf- 
fassung des politischen Eides konnte Ernst August das Staatsgrundgesetz 
nicht beschwören, weil er sich dann verpflichtet geglaubt hätte, keinen Buch- 
staben mehr daran zu ändern. Um sein eigenes Gewissen zu sichern, hielt 
er sich berechtigt, die Gewissen seiner Untertanen zu bedrängen. Also 
stürmte er blindlings hinein in die Bahn des Unrechts — denn ich bin 
ein Bock, so gestand er selbst — und getröstete sich des altenglischen Glau- 
bens, daß die Deutschen zwar die besten Soldaten der Welt seien, aber 
von ihren Fürsten alles gelassen hinnähmen. 
Drei Tage vor seiner Ankunft schritt die Bürgerschaft von Hannover 
abends in langem, schweigendem Zuge hinaus nach dem Schlosse Mont- 
brillant, um von dem geliebten Herzog von Cambridge Abschied zu nehmen. 
Ihrem Wortführer, dem Bürgermeister Rumann, und dem guten Vizekönige 
versagte fast die Stimme; alles fühlte, die gemächliche alte Zeit ging zu 
Ende. Am Abend des 28. Juni zog der neue König ein, beantwortete die 
Anrede des Bürgermeisters mit kurzen, wenig freundlichen Worten und
	        
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