Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Boyen. Kamnptz. 155 
fest. Friedrich Wilhelm ließ sich zwar, wie sein Vater, in der Regel von 
dem Kabinettsminister Vortrag halten, berief aber auch zuweilen kurzweg 
einen oder mehrere der andern Minister oder erschien unerwartet im 
Ministerrat; so überlastete er sich und fand schwer ein Ende.*) Um sich 
gegen die unberechenbaren Einfälle des Monarchen zu decken, versammelte 
Boyen häufiger, als er vordem pflegte, beratende Kommissionen, in deren 
schwerfälligen Verhandlungen mancher gute Plan stecken blieb. Dergestalt 
ward seine zweite Amtsführung, wenn auch nicht unfruchtbar, doch weit 
weniger erfolgreich als die erste. Er empfand oft schmerzlich die Last 
seiner Jahre, obgleich andere sich über seine jugendliche Frische verwunder- 
ten, und in seinen Augen noch immer jene verdeckte Glut brannte, die 
ihm einst den Namen des stillen Löwen verschafft hatte. Mehr als das 
Alter hemmte ihn die Unsicherheit seiner Stellung; alle Ratgeber Fried- 
rich Wilhelms überkam bald das drückende Gefühl, daß man in einer 
unmöglichen Zeit lebte. 
Auch im Justizministerium ward ein Personenwechsel unvermeidlich. 
Schon gleich nach seiner Thronbesteigung (29. Juni 1840) hatte der König 
einc dankenswerte Reform in der Rechtspflege herbeigeführt, indem er 
erklärte, es widerstrebe seinem Gefühl, die Todesurteile förmlich zu be- 
stätigen. Die Krone verzichtete also auf jede unmittelbare Ausübung ihrer 
alten oberstrichterlichen Gewalt, sie begnügte sich fortan mit dem Rechte 
der Begnadigung; wenn sie von diesem Rechte keinen Gebrauch machen 
wollte, dann befahl sie einfach, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen, 
so daß die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt auch in der Form streng ge- 
wahrt wurde. Dieser ersten Reform sollten größere folgen, vornehmlich 
eine Neugestaltung des Strafverfahrens. Wie hätte Friedrich Wilhelm 
für solche Pläne den alten, ihm persönlich widerwärtigen Kamptz gebrauchen 
können, der mit allem seinem Fleiße das Werk der Gesetzrevision kaum von 
der Stelle gebracht hatte und, befangen in der toten Gelehrsamkeit seines 
geliebten Reichskammergerichts, Offentlichkeit und Mündlichkeit als Re- 
liquien aus den Kinderzeiten der Rechtspflege bemitleidete? Vor kurzem 
erst, bei seinem Jubiläum waren dem Demagogenverfolger mannigfache Aus- 
zeichnungen, sogar das Ehrenbürgerrecht der Hauptstadt zu teil geworden. 
Er hielt sich für unentbehrlich, ging im Sommer 1841 wohlgemut nach 
Gastein, dem Jungbrunnen der Greise, und wollte seinen Augen kaum 
trauen, als ihm General Thile dorthin schrieb: bei seiner „Lebens= und 
Geistesfülle“ bedürfe der König jüngerer Diener. Kamptz sträubte sich 
noch heftiger denn vor drei Jahren, als man ihm die rheinische Justiz- 
verwaltung nahm?#); flehentlich bat er den General, selbst zu beurteilen, 
„ob ich jemals mit meinen Kräften zurückgeblieben bin“, und beschwor 
  
*) Thile, Bericht über die Vereinfachung des Geschäftsganges, 15. Febr. 1842. 
* ) S. o. IV. 551.
	        
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