Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

10 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. 
des vaterländischen Lebens wollte der christliche Monarch sorgsam gerecht 
werden: dem Handel, dem Gewerbfleiß, dem Verkehre und nicht zuletzt 
den arbeitenden Massen, deren wachsende Macht er schon als Kronprinz, 
früher als die meisten Zeitgenossen, scharfsichtig würdigte. 
Von der überlieferten auswärtigen Politik war er nicht gemeint, sich 
gänzlich loszusagen; er betrachtete den Bund der Ostmächte als den Schutz- 
wall wider die Revolution, seine alte Verehrung für Metternichs Weis- 
heit hatte sich mit den Jahren nur gesteigert, und gegen den russischen 
Schwager zeigte er sich schwächer als sein Vorgänger. Der alte Herr 
hatte „den lieben Niks“ wie einen Sohn geliebt, aber ihn in seiner stillen 
Weise immer in Schranken gehalten. Dem neuen Könige war die Härte 
des Zaren tief zuwider, und vor Vertrauten äußerte er sich oft sehr bitter 
über „Seine Autokratische Majestät“, doch er empfand vor ihm jene geheime 
Furcht, welche der überlegene Wille dem überlegenen Geiste aufzwingt. 
Dabei fühlte er doch sehr lebhaft, daß seine innere Politik weder mit dem 
gemütlichen Seelenschlafe des alten Österreichs, noch mit der knechtischen 
Stille des Zarenreichs irgend etwas gemein haben durfte, und ersehnte 
die Zeit, da England wieder in den alten Vierbund eintreten, Preußen 
aber, gestärkt durch ein engeres Bündnis der beiden protestantischen 
Großmächte, etwas freiere Hand in Europa erhalten würde. Diesem stamm- 
verwandten Inselvolke widmete er seit einigen Jahren eine feurige durch 
Bunsens enthusiastische Briefe beständig geschürte Bewunderung. Mit 
Freuden nahm er wahr, wie die Anglomanie seit dem Ende der dreißiger 
Jahre überall in Mitteleuropa, bis nach Ungarn hinein, unter dem 
Adel überhandnahm, Trachten und Sitten der englischen Sportsmen 
von der vornehmen Welt eifrig nachgeahmt wurden. Er sah in der briti- 
schen Verfassung das Musterbild jener organischen Entwicklung, die er, 
in anderen Formen freilich, für seinen eigenen Staat erhoffte, und teilte 
die unter dem liberalen Adel wie im Bürgertum weit verbreitete Mei- 
nung, daß England unser natürlicher Bundesgenosse sei. Immerhin 
hatte er schon mehr politische Erfahrung gesammelt als die freiwilligen 
Staatsmänner des Liberalismus und erkannte wohl, daß die Verbindungen 
der Staaten nicht allein durch ihre innere Verwandtschaft bestimmt wer- 
den; nur wenn der alte Ostbund unerschütterlich fortbestehe, hielt er das 
engere Bündnis der zwei protestantischen Mächte für möglich. 
Noch lebhafter beschäftigte ihn Preußens deutsche Politik. Er rechnete 
nicht auf ein langes Leben und sagte bald nach seiner Thronbesteigung: 
ob diese kurze Regierung ruhmreich werde, das wisse er nicht, aber einen 
deutschen Charakter solle sie tragen. Da er „die Vorurteile“ des fride- 
rizianischen Zeitalters verachtete und dem alten Kaiserhause neidlos den 
Vortritt überließ, so hielt er den Deutschen Bund mitsamt der fried- 
lichen Zweiherrschaft für eine höchst segensreiche Einrichtung, und sein 
Ehrgeiz ging nur dahin, daß Preußen diese trefflichen Institutionen be-
	        
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