Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

12 V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. 
unüberwindlich, so wollte er das Buch zuschlagen. So sprach nicht ein 
geborener Herrscher, sondern ein phantasiereicher Kopf, der sich den Ein— 
drücken des Lebens mehr hingab, als sie selbst bestimmte, eine weiche Natur, 
die im Vertrauen auf Gott und die Menschen allezeit hoffte, die Dinge 
würden nach ihren Wünschen gehen und dann das Mißlingen nicht der 
eigenen Schwäche, sondern dem unerforschlichen Ratschlusse der Vor— 
sehung zuschrieb. Auf seinem Schreibtisch in Sanssouci standen neben— 
einander die Statuetten der Venus von Melos, des frommen Gellert, 
des Zaren Nikolaus, beredte Zeugen einer wunderbaren Empfänglichkeit, 
die in Kunst und Wissenschaft, in Staat und Kirche alles Bedeutende zu 
verstehen suchte, ohne irgendwo ganz heimisch zu werden. 
Im Gespräche mit den Helden des deutschen Geistes zeigte er eine 
so blendende Überlegenheit, daß Leopold Ranke staunend sagte: er ist 
unser aller Meister. Und doch war er kein Meister, sondern nur der 
größte aller jener geistreichen Dilettanten, an denen die vielgestaltige 
moderne Kultur so reich ist. Auf keinem der unzähligen Gebiete des 
geistigen Lebens, die sein ruheloser Geist zu umfassen strebte, zeigte er sich 
wahrhaft mächtig, wahrhaft schöpferisch, am wenigsten in seinem poli- 
tischen Berufe. In späteren Jahren wetterte einmal ein klagender Bauer, 
der von dem Monarchen an den Staat gewiesen wurde, über diesen 
„Racker von Staat“, und der König pflegte dies geflügelte Wort halb im 
Scherz zu wiederholen. In seinem Munde war es leider mehr als ein 
Scherzwort; die unerbittliche Regelmäßigkeit der Staatsgeschäfte widerte 
ihn ebenso tief an wie die Härte der politischen Machtkämpfe, obgleich er 
die Arbeiten seines königlichen Amts mit gewissenhaftem Fleiße, bis in die 
tiefe Nacht hinein besorgte. Immer atmete er auf, sobald er sich aus 
dieser Welt der Nüchternheit in sein eigenes reiches Ich zurückziehen konnte, 
und nie war er glücklicher, als wenn er, berauschend und berauscht, die Flut 
seiner Gedanken und Gefühle in begeisterter Rede ausströmen ließ. „Es 
ließ mir keine Ruh', ich mußte reden,“ so sagte er dann, durchaus ehr- 
lich, zu seinen Freunden.“) Nur die ihn nicht kannten, beschuldigten ihn 
einer schauspielernden Berechnung, welche seinem Charakter fern lag. Sein 
volles Herz auszuschütten, an der Pracht hoher Bilder, an dem Wohl- 
laut der heißgeliebten, mit Meisterhand gepflegten Muttersprache sich zu 
erfreuen, war ihm Bedürfnis. Die Wirkung dieser gesprochenen Selbst- 
bekenntnisse stellte er dem barmherzigen Himmel anheim, ganz anders als 
sein Ahnherr Friedrich, der, auch ein geborener Redner, immer zum 
Zwecke sprach, jeden Satz auf den Willen der Hörer berechnend, und nie 
vergaß, daß Königsworte nur, wenn sie Taten sind, in der Nachwelt fort- 
leben. Jenen unbewußten Schauspielerkünsten freilich, welche jedem be- 
gabten Redner nahe liegen, unterlag er oftmals; wenn er an froher 
  
*) K. Friedrich Wilhelm an Thile, 13. Juni 1846 usw.
	        
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