Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Entlassung Diesterwegs. Die Gymnasien. 243 
konnte, so trat er einstweilen in den Ruhestand, und der tief gekränkte 
Mann wendete sich fortan mit seiner einseitigen Strenge ganz dem Ra- 
dikalismus zu. Die unüberlegte Härte der Regierung rächte sich grau- 
sam; in allen Zeitungen begannen die ergrimmten Volksschullehrer einen 
anonymen Federkrieg, der den Namen Eichhorns ganz in Verruf brachte. 
Auch die Gymnasiallehrer betrachteten das neue Regiment mit Miß- 
trauen, da die Literarische Zeitung den heidnischen Geist des humanistischen 
Unterrichts in törichten Artikeln zu bekämpfen liebte. Die Besorgnis war 
freilich grundlos. Der König und sein Minister standen beide viel zu 
hoch, um die befreiende Macht der klassischen Bildung zu verkennen; sie 
ließen sich weder durch jenen christlichen Übereifer beirren noch durch die 
Plattheit der Nützlichkeitslehrer, die eben jetzt in einem Teile der libe- 
ralen Presse wieder sehr laut forderten, daß die deutsche Jugend nicht mehr 
zum selbständigen Denken erzogen, sondern durch das Einprägen mannig- 
faltiger Notizen für das praktische Leben abgerichtet werden sollte. 
Die Gymnasien blieben ungestört bei ihrem altbewährten Lehrplane, 
und Eichhorn erweiterte ihn durch die dankenswerte Wiedereinführung des 
Turnens. Nur der Religionsunterricht wurde gründlich umgestaltet. Erwar 
seit dem Anfang des Jahrhunderts auf den meisten evangelischen Gym- 
nasien Preußens und der Nachbarlande erteilt worden nach dem Lehr- 
buch des Hallenser Kanzlers Niemeyer, des gefeierten Pädagogen, der einst 
als Urenkel Franckes die Schulstiftungen seines Eltervaters lange Jahre 
hindurch geleitet, mehrere der ersten Beamten Preußens, Vincke, Bassewitz, 
Merckel, Bodelschwingh und viele andere namhafte Männer erzogen hatte. 
Das Lehrbuch zeigte alle Charakterzüge des alten Rationalismus, der jetzt zu 
Grabe ging: bürgerliche Ehrbarkeit, humane Milde, nüchterne Verstandes- 
dürre; und dieselbe Macht der Geschichte, welche vor Zeiten das Hallische 
Waisenhaus, das eigenste Werk des glaubensstarken Pietismus, in die 
Bahnen der Aufklärung hinübergeleitet hatte, mußte jetzt zu einem neuen 
Rückschlage führen. Dem wieder erstarkten religiösen Gefühle lonnte Nie- 
meyers moralisierende Trockenheit nicht mehr genügen. Eichhorn tat 
nur seine Pflicht, er hielt Schritt mit den lebendigen Kräften der evan- 
gelischen Kirche, als er nach dem Erscheinen der achtzehnten Auflage das 
veraltete Lehrbuch aus den Schulen entfernen ließ. Umsonst bemühte sich 
Herm. Agathon Niemeyer, der Nachfolger des alten Kanzlers in dem 
Franckischen Familienamte, das Buch seines Vaters gegen den Minister zu 
verteidigen. Auch andere Gymnasiallehrer, die sich einen Primaner ohne 
das Niemeyersche Lehrbuch gar nicht vorstellen konnten, betrachteten das 
Verbot als ein Anzeichen hereinbrechenden Geistesdrucks; und gereizt wie 
man war, verargte man dem Minister selbst notwendige Maßregeln dis- 
ziplinarischer Strenge. Oberlehrer Witt, einer von Schöns literarischen 
Schildknappen, wurde überall in der Presse wie ein Glaubensheld verherr- 
licht, weiler sich weigerte, aus der Redaktion der scharf oppositionellen Königs- 
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