258 V. 3. Enttäuschung und Verwirrung.
hatte, erschien dieser romantischen Staatskunst als ein Heilmittel. Solchen
Sprüngen wollte selbst Thile nicht mehr folgen. Radowitz aber, dem
der Entwurf nach Karlsruhe zugesendet wurde, antwortete mit schönem
Freimut: „Euerer K. Majestät Anordnungen zur Belebung und Gliede—
rung des Adels würden in den weitesten Kreisen nur auf Mißtrauen
und Gehässigkeit stoßen, in dieser Atmosphäre aller Lebenskraft von vorn—
herein ermangeln und statt des gehofften Nutzens nur neue Gefahren und
Verlegenheiten bereiten.“*) Diese Warnung wirkte für den Augenblick.
Die Entwürfe blieben vorläufig liegen, zum Glück für die Regierung; denn
das Bürgertum war schon durch die umlaufenden Gerüchte erbittert
worden und erzählte sich überall, der König wolle eine adlige Bank am
Kammergericht errichten. Dann brach die Revolution herein und zwang
den Adel, die Reformen, die ihm der Staat nicht bringen konnte, aus
sich selbst heraus zu versuchen, soweit dies noch möglich war. Seitdem
erst begannen die Geschlechter, die sich noch ein aristokratisches Gefühl
bewahrt hatten, durch Familientage und Satzungen, durch Stiftungen
und Familien-Geschichtswerke den erschlafften und oft entarteten Standes-
geist wieder etwas zu kräftigen. —
Hoch über allen diesen Gegensätzen stand doch die Frage der Zeit, der
Kampf um die Reichsstände. Da die Vereinigten Ausschüsse so gar wenig
geleistet hatten, so wendete sich die öffentliche Teilnahme wieder den Pro-
vinzialständen zu, die für den März 1843 zu einer neuen Tagung ein-
berufen waren. Eine Menge von Petitionen wurde vorbereitet; an ihrer
unaufhaltsam wachsenden Masse ließ sich das Anschwellen der Volksbe-
wegung ebenso sicher abmessen wie einst im Zeitalter der Reformation an
der Zahl der neuen Drucke. Die große Mehrzahl kam aus den Städten;
der Streit war ja zum guten Teile ein Kampf der bürgerlichen Inter-
essen wider das Übergewicht des Grundbesitzes. Die schöne kleine Stadt
Hirschberg am Abhang des Riesengebirges, die sich allezeit durch radikalen
Widerspruchsgeist auszeichnete, wagte bereits die Nachbarstädte aufzufor-
dern zur Mitunterzeichnung einer Petition, welche Vermehrung der bürger-
lichen Abgeordneten und Erweiterung des städtischen Wahlrechts verlangte.
Oberpräsident Merckel vereitelte für diesmal noch das nach dem bestehen-
den Rechte unerlaubte Unternehmen; doch seitdem begann zwischen den
liberalen Städten ein still geschäftiger politischer Verkehr, dessen Folgen
sich bald zeigen sollten. Sobald die Landtage ihre Arbeit anfingen,
mußte jedem Weltkundigen einleuchten, daß der alte Verfassungszustand
sich schlechterdings nicht mehr halten ließ. Statt der vergeblich erwar-
*) Thile an Radowitz, 28. Mai; Radowitz an den König, 13. Juni 1847.