Vierter Abschnitt.
Die Parteiung in der Kirche.
Nichts in der Geschichte ist so geheimnisvoll wie das religiöse Leben
der hochgebildeten Völker, welche das naive Gesamtgefühl, das lebendige
Einverständnis zwischen den Höhen und den Tiefen der Gesellschaft längst
verloren haben. Ihnen geschieht es zuweilen, daß alle Gottesfurcht, alle
Andacht aus den Kreisen der Verstandesbildung zu verschwinden scheint,
bis plötzlich aus den Massen des Volkes ungeahnte Kräfte freudigen
Glaubens oder dumpfen Aberglaubens emporsteigen; aber es kommen
auch Zeiten, da ein im Grunde glaubenloses, gleichgültiges Geschlecht
lärmende kirchliche Kämpfe führt, denen das Gemüt des Volkes fremd
bleibt. Eine solche Zeit ohne Glaubenskraft und doch voll kirchlichen
Haders erschien jetzt den Deutschen. Ein volles Drittel der neuen lite—
rarischen Erscheinungen dieser acht Jahre bestand aus kirchlichen Streit—
schriften; gleichwohl war die große Mehrheit der gebildeten Klassen von
Grund aus weltlich gesinnt. Von dem tiefen Glaubensernst der Be—
freiungskriege zeigten sich nur noch wenige Spuren, erst die erschüttern—
den Erfahrungen der Revolutionsjahre sollten ihn wieder erwecken. Die
Ultramontanen allein bildeten eine festgeschlossene kirchliche Partei; und
sie verfolgte wesentlich politische Zwecke, wie sie ja auch ihre neue Macht
dem Kampfe gegen die Krone Preußen verdankte. Die rein lirchlichen
Reformgedanken, mit denen sich Nitzsch und so manche andere Schüler
Schleiermachers trugen, fanden unter den politisch erregten Zeitgenossen
sehr wenig Verständnis. Auch der religiöse Radikalismus, der in beiden
Kirchen mannigfache unglückliche Versuche neuer Sektenbildungen wagte,
besaß keinen Boden im Volke, das nach den Streitigkeiten der Philosophen-=
schulen nie gefragt hatte; er entsprang selten einer starken sittlichen Über-
zeugung; öfter ward er nur, in natürlichem Rückschlage, durch den wach-
senden Übermut der Ultramontanen oder durch die strengkirchliche Hal-
tung der preußischen Regierung hervorgerufen; in den meisten Jällen
aber diente er der politischen Opposition als Deckmantel für ihre welt-