Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Radowitz. 21 
Kreise des alten Landesadels eingetreten war, blieb er den strengen Alt— 
preußen noch lange als Fremdling verdächtig. Manche nannten den edlen, 
alle Ränkesucht mißachtenden Mann einen neuen Cagliostro, die meisten 
einen verkappten Jesuiten. Der eifrig protestantische, den konstitutionellen 
Ideen zugeneigte Kriegsminister Witzleben hielt endlich für nötig, diesen 
katholischen Legitimisten aus der Umgebung des Kronprinzen zu entfernen — 
um dieselbe Zeit, da auch General Gröben und Oberst Gerlach in die 
Provinz versetzt wurden. Der alte König genehmigte den Antrag, aber 
in seiner gerechten Weise: er ernannte den kaum vierzigjährigen Stabs- 
offizier zum Nachfolger des Generals Wolzogen bei der Militärkommission 
des Bundestags. Auch dort wurde Radowitz durch Fleiß und geistige 
Überlegenheit den bequemeren Amtsgenossen bald sehr lästig. Der Sohn 
einer gemischten Ehe und in der Kindheit evangelisch erzogen, hatte er 
sich erst in seinen reiferen Jugendjahren, mit wachem Bewußtsein der 
römischen Kirche zugewendet und in ihr so gänzlich seinen Frieden gefun- 
den, daß er kurzweg aussprach, jede Wahrheit sei katholisch. Sein ent- 
sagendes Denkerleben führte ihn zu einer mönchisch strengen Auffassung 
der sittlichen Welt. Niemals erkannte er, daß das sittliche Ideal der 
Protestanten, die Einheit des Denkens und des Wollens, dem schwachen 
Sterblichen weit schwerere Pflichten auferlegt als die Werkheiligkeit der 
Katholiken. In dem Cölibate sah er nicht ein Meisterstück päpstlicher 
Politik, ein klug ersonnenes Machtmittel, das den Klerus als eine ge- 
schlossene Priesterkaste von der bürgerlichen Gesellschaft abtrennen soll, 
sondern eine hohe sittliche Idee; den Kampf der Protestanten wider diese 
frevelhafte Verstümmelung der Natur konnte er sich nur aus der Fleisches- 
lust erklären, obgleich er selbst in einer glücklichen, mit Kindern gesegneten 
Ehe lebte. Bei solcher Gesinnung mußte er den Kölnischen Bischofsstreit 
mit tiefem Kummer betrachten. Die Freude an seinem neuen preußischen 
Vaterlande erlitt plötzlich einen schweren Stoß, und er pries es als eine 
gnädige Fügung, daß sein Amt ihn nicht nötigte, in diesem Kampfe 
öffentlich Farbe zu bekennen. 
Ebenso einseitig war auch, trotz aller Gelehrsamkeit, sein ästhetisches 
Urteil. Goethes warme Sinnlichkeit blieb ihm so unverständlich wie die 
gesamte Bildhauerkunst, weil sie in der Darstellung heidnischer Nackt- 
heit ihr Höchstes leistet, und den letzten Quell aller modernen Sünden 
suchte er in der großen Zeit des Cinquecento, in der Wiederbelebung des 
klassischen Heidentums. Daher verabscheute er, ganz in Hallers Sinne, 
die Revolution als ein teuflisches Prinzip und bekämpfte die gesamte 
neuere Staatslehre, weil sie den Staat nicht als den Schutzherrn, son- 
dern als den Schöpfer des Rechts betrachte. Noch war ihm nicht klar, 
daß der rechtsbildende Gemeingeist der modernen Völker sich gerade in 
ihrer Gesetzgebung ausspricht, und die historische Entwicklung des Rechts 
heute nicht mehr ohne die Mitwirkung frei geordneter Staatsgewalten
	        
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