Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Preußen und die Deutschkatholiken. 349 
Sehr unsicher verfuhr die Krone Preußen gegen die neue Sekte. 
Zu Anfang begrüßte der König den Abfall Ronges geradezu mit Freude. 
Nach seiner Doktrin konnten ja beide Kirchen nur an innerer Kraft ge— 
winnen, wenn die Ungläubigen ausschieden. Ganz in seinem Sinne 
riet General Thile, die kleine, von Rom ausgestoßene Schneidemühler 
Gemeinde Czerskis so günstig als möglich zu stellen; das würde hof— 
fentlich auch die evangelischen Sektierer zum Austritt aus der Landeskirche 
ermutigen, „und der Weg zu einer Reinigung unserer Kirche kann sich 
dadurch vielleicht mit anbahnen“. Da die Schneidemühler sich ernst und 
ehrbar hielten, so war Friedrich Wilhelm sogar geneigt, sie als Augsburger 
Konfessionsverwandte anzuerkennen und ihnen sein Wohlgefallen auszu- 
sprechen.) Erst nach einem Gespräche mit dem Erzbischof Geissel auf 
Stolzenfels ward er mißtrauischer; er begann jetzt zu bemerken, wie der 
politische Radikalismus sich der Sekte bemächtigte, und als er gar erfuhr, 
daß Ronge in der evangelischen Kirche zu Jerschendorf erschienen war, um 
die Gemeinde zum Abfall zu verführen, da schrieb er zornig: „Heute 
hört man noch nichts von ernstlicher Untersuchung, viel weniger aber von 
Zukunft unserer Kirche derselbe Rechtsschutz gegen die neukatholischen Ein- 
griffe geleistet werde, dessen sich die römische Kirche bei uns erfreut.“) 
Nach vielfachen Erwägungen beschloß er endlich, die rechtliche Stellung 
der Deutschkatholiken und der protestantischen Dissidenten zugleich durch 
ein umfassendes Toleranz-Edikt zu regeln. — 
  
Dieser Entschluß rechtfertigte sich von selbst, denn auch die evangelische 
Kirche ward durch sektiererische Bewegungen erschüttert. Der ältesten und 
ehrwürdigsten dieser protestantischen Sekten, den Altlutheranern, suchte 
Friedrich Wilhelm von Haus aus durch milde Nachsicht gerecht zu werden, 
wie er ja schon als Kronprinz die harte Behandlung dieser Frommen 
stets verurteilt hatte.**#*) Er gestattete ihnen stillschweigend ungestörten 
Gottesdienst und die Heimkehr der ausgewanderten Prediger. Die gesetz- 
liche Anerkennung der Sekte wagte er jedoch erst nach Jahren auszusprechen, 
weil der Prinz von Preußen ernst und beharrlich widerstand. Immer 
voll Pietät für den Vater, verlangte der Thronfolger, daß man die An- 
ordnungen der früheren Regierung nicht förmlich zurücknehmen, sondern 
die Behörden lediglich zur Duldung der Altlutheraner anweisen solle. 
So in allem und jedem zeigte sich der Gegensatz der beiden Brüder. 
  
*) Thiles Denkschrift über Schneidemühl, 11. Jan.; Thile an Uhden und Eich- 
horn und Bericht an den König, 6. Sept. 1845. 
**) König Friedrich Wilhelm an Thile, 4. Juli 1846. 
**) S. o. IV. 565 ff.
	        
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