Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Aufschwung der Dramatik. 389 
teilte sie die kindliche Freude am Großen, Herrlichen, Wunderbaren, und 
ganz westfälisch, kräftige Kinder der roten Erde waren auch ihre Ge— 
dichte und Erzählungen — meist einfache Stoffe, aus Gebirg und Moor, 
aus dem Alltagsleben, aus dem Kirchenjahre und der Geschichte der Heimat, 
aber alles verklärt durch die leidenschaftliche Macht einer immer selb— 
ständigen, ursprünglichen Empfindung. Das geheimnisvolle Traumleben 
der Natur, in der Landschaft wie in der fiebernden, bangenden Menschen— 
seele, war der Tochter der Heide von Kindesbeinen an vertraut und ihre 
männliche Sprachgewalt fand auch für das Geisterhafte stets den packenden, 
den entscheidenden Ausdruck. Leider verdarb sie den Eindruck ihrer Dich— 
tungen oft durch die ungelenke, ja rohe und inkorrekte Form; das Ge— 
heimnis der künstlerischen Komposition blieb ihr wie fast allen Weibern 
unfaßbar. Dem Streite des Tages stand Annette fern; nur selten wagte 
sie ein Wort der Warnung an den Vorwitz der Weltverbesserer oder an 
die friedlose Hast des neuen Geschlechts, das kaum noch fähig schien, Freud 
und Leid der vierundzwanzig Tagesstunden rein auszukosten: 
Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück, 
Und unsre Morgen morden unsre Heute! — 
Frischere Blüten als die anderen Zweige der Dichtung trieb in diesen 
Jahren die dramatische Kunst. Zu lange schon kränkelte unser Theater 
an den Schultheorien der Romantiker. Feine Kennerkreise erlabten sich an 
Tiecks Shakespeare-Vorlesungen oder an gelehrten Lesedramen. Die miß— 
achtete Bühne aber, die doch leben, doch die Schaulust der Menge be— 
friedigen mußte, verfiel mehr und mehr dem Handwerkerfleiße schlechter 
Übersetzer.“) In solcher Lage erwarben sich die beiden kräftigsten Talente 
des eigentlichen Jungen Deutschlands, Laube und Gutzkow, ein großes Ver- 
dienst, als sie versuchten, dem deutschen Theater durch deutsche, streng 
bühnengerechte und doch nicht gehaltlose Werke wieder aufzuhelfen. Ihre 
Vorbilder konnten sie nur bei den Franzosen finden, bei dem einzigen Volke, 
dessen Theater damals wirklich lebte. Zum Glück besaß Frankreich keinen 
überlegenen dramatischen Genius, der die deutschen Schüler, wie Walter 
Scott unsere Romandichter, zu unfreier Nachahmung verführen konnte. 
Wohl aber ließ sich von Seribes vollendeter Technik vieles lernen; seine 
feinberechneten Intrigen vermochten allein dem deutschen Gemüte so wenig 
zu genügen wie die mageren, schablonenhaften, ganz durch die Handlung 
beherrschten, ja fast erdrückten Charaktere. Es galt, Dramen zu schaffen, 
deren Handlung ebenso spannend und erregend wirkte, aber aus dem Zu- 
sammenstoße der Charaktere notwendig hervorging. Und wie schwer war 
diese Aufgabe. Welch einen Schatz besaß Frankreich an seiner rein natio- 
nalen Bühne; seine Schauspieler hatten immer nur Franzosen darzu- 
stellen, Menschen, deren Art und Unart jedem Hörer verständlich war. 
  
*) S. o. IV. 451.
	        
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