410 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
einer Höhe, welche wohl seinem dämonischen Genie, doch nicht seiner
politischen Tätigkeit gebührt. Trotz alledem bewiesen beide Schriften
durch ihre mächtige Wirksamkeit, wie hoch das politische Denken und
Wollen über der gelehrten Forschung steht; sie sprachen das rechte Wort
zur rechten Zeit, sie zwangen auch die kleinmütigen deutschen Historiker,
fortan mit ihrem politischen Urteil nicht mehr ängstlich hinter dem Berge
zu halten, und erhoben den tapferen Verfasser für einige Jahre zum ver-
ehrten politischen Führer unserer Gelehrtenwelt. Wie eine Weissagung
klang sein Ausspruch, daß „die monarchische Unumschränktheit ihre unver-
geßliche Zeit gehabt hat, gegenwärtig aber, verlassen von dem Glauben
der Völker, ein so eitles Geräusch treibt, wie die klappernden Speichen
eines Rades, dessen Nabe zerbrochen ist.“
Noch schärfer und kühner verkündete J. G. Droysen die Forderungen
der Gegenwart in seiner Geschichte der Freiheitskriege. Aufgewachsen in
einem stillen pommerschen Pfarrhause war Droysen früh in die Kreise
der höchsten künstlerischen und wissenschaftlichen Bildung Berlins einge-
treten und hatte seine vielseitige Begabung schon durch die geistvolle Über-
setzung des Aschylus und Aristophanes bewährt, nachher durch die Ge-
schichte Alexanders, ein Buch voll schöner jugendlicher Begeisterung, das
freilich nach Hegels Weise den unterliegenden Parteien meist unrecht gab.
Unter Freiheitskriegen verstand er die gesamte große Bewegung, welche
seit der Erhebung Nordamerikas bis zu den Pariser Friedensschlüssen die
gesittete Welt erschüttert hatte. Das Buch konnte und wollte nur ein
erster Versuch sein, den Deutschen ein Bewußtsein von dem Ideengehalte
dieser reichen Zeit zu erwecken. Die Darstellung der Tatsachen mußte
mangelhaft bleiben, da die deutschen Archive noch verschlossen lagen; die
Erzählung ward durch die Reflexion noch stark überwogen, die Geschichte
erschien mehr als ein dialektischer Prozeß, denn als ein Kampf wollender
Männer. Aber klar und lebendig trat das letzte Ziel der langen Ent-
wicklung heraus: das nationale Preußen, das seinem Sondergeist ent-
wachsend mehr und mehr im deutschen Namen untergehen müsse. Voll-
ständig, erschöpfend wie in keinem anderen Buche dieser Jahre ward das
ganze Programm des gemäßigten Liberalismus dahin zusammengefaßt:
nationale Selbständigkeit und Einheit; grundgesetzliche Rechtssicherheit; ein
wahrhaftes Staatsbürgertum, gegründet auf kommunaler und reichsstän-
discher Freiheit; gerechte Autonomie in allen Lebenskreisen, deren Zweck
nicht der Staat ist. In der Summe dieser Forderungen sah Droysen, da
er von der Doktrin der Menschenrechte doch noch nicht ganz loskam, die
königliche Vollfreiheit des sittlichen Menschen, und in dieser — nach Schöns
bekanntem Ausspruch — den unerschütterlichen Pfeiler jedes Thrones. König
Friedrich Wilhelm hatte sich in die Welt seiner ständischen Gliederung schon
so tief eingesponnen, daß er selbst diese maßvoll und edel vorgetragenen
Gedanken nicht mehr verwinden konnte. Den ersten Band des Buchs