Gervinus. 417
nachher wider die Unzucht der Revolution wurde der gemäßigte Mann,
der in der Polemik auch gehässige Feinde stets würdig behandelte, mehr
und mehr in das Lager der Reaktion hinübergedrängt und gelangte schließ—
lich so weit, daß ihm der Gegensatz von Legitimität und Revolution, von
Glauben und Unglauben als der einzige Inhalt der wandelreichen Men—
schengeschichte erschien — eine unlebendige Abstraktion, die er in solcher
Härte früherhin nie ausgesprochen hatte.
Wie durch eines Himmels Weite getrennt, stand diesem Denker G. G.
Gervinus gegenüber, der jüngste der Göttinger Sieben, dessen Schriften die
liberale Welt fast noch stärker ergriffen als Dahlmanns Zwei Revolutionen.
Gervinus hatte seine Jugend als Kaufmann zu Darmstadt verlebt und sich
nachher in Heidelberg, mächtig angeregt durch Schlossers moralisierende
Geschichtsbehandlung, mit eisernem Fleiße zum Gelehrten herangebildet —
ein reicher, vielseitiger, aber unharmonischer Geist, voll sittlichen Ernstes
und doch lieblos, launenhaft, rechthaberisch; sprudelnd von Einfällen und
doch ohne spekulativen Tiefsinn, voll künstlerischer Neigungen und doch
ohne jedes Stilgefühl; voll patriotischer Leidenschaft und doch ohne poli-
tisches Talent. Frei von Eigennutz und kleiner gesellschaftlicher Eitelkeit
behandelte er weiche, anschmiegende junge Männer mit väterlichem Wohl-
wollen; stärkere Naturen, die schon eigene Gedanken hegten, fühlten sich oft
niedergedrückt in seiner Nähe. Er selbst erkannte die seltsamen Widersprüche
seiner Begabung niemals; denn sein von Haus aus unbändiges Selbstge-
fühl wurde noch verstärkt durch zwei Empfindungen, die einander gemeinhin
auszuschließen pflegen: durch den Stolz des Autodidakten und den Zunft-
dünkel des Professors. Als er sich dann durch sein tapferes Verhalten unter
den Göttinger Sieben frühen Ruhm erworben hatte und nachher jahrelang
fast ohne amtliche Tätigkeit dahinlebte, ohne Kinder, vergöttert von einer
liebevollen Frau, verwöhnt durch die Freundschaft weit älterer und grö-
ßerer Männer, Dahlmanns und der Brüder Grimm, da spanner sich immer
tiefer ein in sein erhabenes sittliches Ich und gelangte zu einer doktrinären
Unfehlbarkeit, die in einer Zeit weltverwandelnder Geschicke zuletzt not-
wendig durch eine tragische Demütigung gezüchtigt werden mußte.
Von früh auf hegte er den Ehrgeiz, durch wissenschaftliche Werke
praktische Zwecke zu erreichen, die Nation zum sittlich-politischen Handeln
anzuregen, und als er zuerst den Plan eines größeren Werkes faßte, da
ließ er dem Verleger die Wahl zwischen einer Geschichte der neuesten Zeit,
einer Politik und einer Literaturgeschichte. Der Buchhändler wählte das
letzte, und so entstand das beste von Gervinus' Werken, die Geschichte der
deutschen Dichtung, ein Buch von bleibendem Werte, das die Wissenschaft
der deutschen Literaturgeschichte im Grunde erst geschaffen hat. Bisher
hatte nur Goethe in Wahrheit und Dichtung von den Anfängen unserer
klassischen Literatur ein wahrhaft historisches Bild gegeben. Sonst war
die Geschichte deutscher Dichtung nur ästhetisch oder in lexikographischer
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 27