430 V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
schen Landwirten unentbehrlich. Und wie immer in der Wissenschaft ein
Fund den anderen hervorruft, so gab Liebig bald neue, für Theorie und
Praxis gleich wertvolle Aufschlüsse über Verbesserung und Erhaltung der
Nahrungsmittel. Seine Schuld war es nicht, daß die neue Erkenntnis
auch gröblich mißbraucht wurde. Bald nahm eine in aller Geschichte bei-
spiellose Verfälschung der Lebensmittel überhand und schädigte die Gesund-
heit wie die Sittlichkeit des Volkes so schwer, daß man ernstlich bezweifeln
konnte, ob der Fortschritt der Chemie der Menschheit mehr Segen oder
mehr Unsegen gebracht hatte. Der Gießener Chemiker erschien den fremden
Nationen wie der Herold der deutschen Naturwissenschaft, und die Zeit
kam, da der stolze leidenschaftliche Mann zuversichtlich sagen durfte: „ich
werde meinen Gegnern durch neue wunderbare Dinge antworten.“
Zur selben Zeit, da Liebig über den organischen Stoffwechsel schrieb,
begründete ein Schüler Johannes Müllers, der Rheinländer Schwann
eine neue Theorie der organischen Entfaltung durch seine Zellenlehre.
Er wies nach, daß Struktur und Wachstum der Tiere und der Pflanzen
übereinstimmen, daß sämtliche Gewebe und Organe des tierischen Körpers
aus Zellen hervorgehen. Der stille, bescheidene, kleine Mann, der bald
nachher im katholischen Belgien eine neue Heimat fand und Tag für
Tag inmitten der Marktweiber andächtig der Frühmesse beiwohnte, ließ
seit jenem großen Wurfe wenig mehr von sich hören; aber durch den einen
fruchtbaren Gedanken hatte er der gesamten Pathologie und den ver-
wandten Wissenschaften neue Bahnen gewiesen.
Auch der Ideenkreis der Physiker erweiterte sich inzwischen mächtig,
als Dove das Gesetz der Winde fand, die Grundlage für die neue Wissen-
schaft der Meteorologie. Der heitere, geistreiche Schlesier hatte sich in
allen Kreisen der Berliner Gelehrtenwelt längst eingebürgert, und an der
Universität durch seine lebensvollen Vorträge eine angesehene Stellung er-
rungen; eine Zeitlang stand er den Hegelianern nahe und schrieb auch
unterweilen in ihre wissenschaftlichen Jahrbücher; doch mit freier Sicher-
heit trat er dem Hochmut der Philosophen entgegen, die ihm das Experi-
ment als Handwerkerarbeit verbieten wollten, und je näher er Humboldt
kennen lernte, um so mehr befestigte er sich in der Methode empirischer For-
schung. Nun ward ihm die Freude, daß seine große Entdeckung fast ebenso
stark wie Liebigs Erfindungen auf die Volkswirtschaft einwirkte. Auf Hum-
boldts Verwendung entstand im Norden eine Anzahl meteorologische In-
stitute, und man durfte hoffen, den Landwirten einen Anhalt für ihre
Wetterberechnungen zu geben, die Schiffer auf hoher See vor drohenden
Stürmen zu warnen.
Der physikalischen Theorie gelang im Jahre 1847 eine entscheidende
Tat. Hermann Helmholtz aus der Mark, ein junger Militärarzt, den
die hochmütigen Offiziere des Gardehusarenregiments sehr geringschätzig
behandelten, veröffentlichte die kleine Schrift „die Erhaltung der Kraft“",