Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Fünfter Teil. Bis zur März-Revolution. (28)

Kriegsrufe der Franzosen. 81 
fieber wiederkehren lassen (il veut la faire tourner en Thiers).“) Aber 
den Krieg gegen Frankreich wünschte auch er keineswegs. 
Wie wenig ahnte die Diplomatie in ihren feinen Berechnungen von 
der elementarischen Macht des französischen Nationalstolzes. Schon längst 
empfanden die Franzosen mit gerechtem Unmut, daß ihr Land seit der 
Juli-Revolution in Europa weniger galt als unter den Bourbonen, ihr 
Bürgerkönig sich würdelos um die Gunst der Ostmächte bewarb. Die 
Nation begann der Herrschaft des Großkapitals müde zu werden; Lamar— 
tine sprach nur das Herzensgeheimnis der großen Mehrzahl seiner Lands— 
leute aus, als er sagte: la France s'ennuie. Und nun ward der Liebling 
der Franzosen, der aufgeklärte, von der Pariser Presse vergötterte Refor— 
mator des Orients durch einen offenbar ungerechten Schiedsspruch Eu— 
ropas, ohne Frankreichs Vorwissen, verurteilt, durch ein hinterhaltiges 
Verfahren, das noch tiefer verletzen mußte als ein offener Bruch. Als 
die Nachrichten aus London allmählich bekannt wurden, bemächtigte sich 
der Nation eine furchtbare Aufregung, die allen Höfen ganz uner— 
wartet kam; nur das Petersburger Kabinett hatte mit dem Scharfblicke 
des Hasses alles vorausgesehen. Die Franzosen wähnten wieder, von 
einer Koalition bedroht zu sein; nach ihrer nationalen überlieferung, 
die in Thiers' Geschichtswerken einen so beredten Ausdruck fand, waren ja 
die Kriege des napoleonischen Zeitalters allesamt nicht durch Frankreich 
verschuldet worden, sondern durch die Herrschsucht der europäischen Koali- 
tionen. Da sie sich zur See den Briten nicht gewachsen fühlten, zu 
Lande aber den Sieg erhofften, so erklang durch das Land lauter und 
lauter der Ruf: An den Rhein, an den Rhein! Mit einem Male erfuhr 
Europa, daß Frankreich in einem Vierteljahrhundert noch immer nicht ge- 
lernt hatte, den Eintagsbau des napoleonischen Weltreichs als unwieder- 
bringlich verloren anzuerkennen. 
Thiers selbst sprach anfangs noch mit Mäßigung, da er weder an die 
Ausführung der geplanten Zwangsmaßregeln des Vierbundes noch an eine 
mögliche Niederlage Mehemed Alis glaubte. Er verhehlte den Mächten 
nicht, daß er den Frieden für gefährdet halte, mißbilligte offen die Feind- 
seligkeit wider den Agypter und behielt sich weiteres vor.“) Doch war 
er zu sehr Franzose, um der nationalen Stimmung auf die Dauer zu wider- 
stehen. Die öffentliche Meinung erhitzte sich von Tag zu Tage. Da die 
englische Presse einen unleidlich anmaßenden Ton anschlug und kurzweg die 
Unterwerfung Frankreichs unter die Befehle des Vierbundes forderte, so 
antworteten die Pariser Zeitungen mit revolutionären Drohungen, und selbst 
der Herzog von Broglie, der friedfertige Doktrinär meinte, jetzt müsse 
  
*) Metternich an Werther, 5. Aug. 1840. 
*) Arnims Bericht 23. Juli; Thiers' Denkschrift zur Antwort auf Palmerstons 
Schreiben, 15. Juli 1840. 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. V. 6
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.