84 V. 2. Die Kriegsgefahr.
sitzes, Kreta, das wichtige Grenzland Adana sowie die heiligen Stätten
Mekka und Medina dem Sultan auszuliefern, wenn ihm dafür Agypten
erblich, Syrien auf Lebenszeit zur Verwaltung überlassen würde. Diese
Anerbietungen klangen aus dem Munde des Siegers von Nisib nicht
unbillig; der preußische Hof selbst fand sie befriedigend, doch den anderen
Mächten genügten sie nicht, am wenigsten der Pforte.“) Seit der Sultan
an dem Vierbunde wieder einen Rückhalt besaß, flammte der alte Haß
der Osmanen wider den Agypter mächtig auf, und im September wurde
Mehemed Ali, auf Lord Ponsonbys Andrängen, durch einen Ferman
des Großherrn abgesetzt, obgleich der Diwan versprochen hatte, nicht
einseitig ohne den Beirat Europas vorzugehen. Eine solche Gewalttat
konnten die vier Mächte unmöglich billigen; sie mußte ebenso erfolglos
bleiben, wie die Acht, welche Sultan Machmud vor acht Jahren über den
ägyptischen Vasallen verhängt hatte. Immerhin bewies sie, daß der Streit
der beiden orientalischen Herrscher nicht ohne Waffengewalt zu schlichten
war. Die Gefahr des allgemeinen Krieges rückte näher.
Wunderbar stark und von nachhaltigem Segen war die Rückwirkung
dieser Ereignisse auf das deutsche Volksleben. Die Deutschen hatten von
den verwickelten Londoner Unterhandlungen nur wenig erfahren und an
die Möglichkeit eines europäischen Krieges kaum gedacht. Es traf sie wie
ein Blitz vom hellen Himmel, als plötzlich bei der Einweihung der Juli-
Säule auf dem Bastilleplatze die Marseillaise, diesmal in drohendem Ernst,
erklang und alle französischen Blätter den Feldzug an den Rhein forderten.
Daß Frankreich wegen einiger syrischen Paschaliks die deutsche Westmark
bedrohen wollte, erschien allen als ein Beweis rasenden Übermuts, und
sofort antwortete dem gallischen Kriegsgeschrei aus allen Gauen Deutsch-
lands der alte Schlachtruf der Germanen: her, her! Deutschland war
einig in dem Entschlusse, sein altes so glorreich wiedergewonnenes Erb-
teil ritterlich zu behaupten. Die welschen Ideale des vergangenen Jahr-
zehnts schienen wie weggeblasen, die Heldengestalten von Dennewitz und
Leipzig traten den Deutschen wieder leuchtend vor die Augen; auch die
ästhetische Begeisterung für das schöne Rheinland wirkte mit, die sich wäh-
rend der jüngsten Jahre durch die Bilder der Düsseldorfer und die Lieder
der letzten Romantiker in weiten Kreisen verbreitet hatte. In jedem an-
deren Volke hätte sich ein solcher Entschluß von selbst verstanden; den
Deutschen aber traute das Ausland nationalen Stolz nicht zu, und un-
geheuer war der Eindruck, als hier plötzlich, ganz frei und naturwüchsig,
an hundert Stellen zugleich der Volkszorn seine mächtige Stimme erhob.
Man fühlte überall: diese Empfindung war tiefer, mächtiger als die
Kriegsbegeisterung der Franzosen, die freilich auch aus dem Herzen kam,
*) Thiers, Weisung an Bresson in Berlin, 27. Sept. Minister Werther, Bericht
an den König, 23. Sept. 1840.