Full text: Die Verfassungsurkunde für den Preußischen Staat. Erster Band: Einleitung. Die Titel. Vom Staatsgebiete und Von den Rechten der Preußen. (1)

Titel II ist individualistisch, nicht nationalistisch gedacht. 103 
klarer zum Ausdruck gebracht wird, geht doch dahin, daß jene und alle 
andern Grundrechte als subjektive Rechte nicht Ausfluß der Staats- 
angehörigkeit, sondern der Persönlichkeit sind und als objektive 
Normen nicht das Verhältnis zwischen Staat und Staatsbürger sondern 
das zwischen Staat und Individuum regeln wollen. Tit. II ist trotz 
und entgegen seiner Uberschrift nicht, wie Zorn, vRZ 2 150, 151, 275 
und Frisch a. a. O. 256 wollen, nationalistisch, sondern rein indi- 
vidualistisch gedacht. (Um Mißverständnisse fernzuhalten; wiederhole 
ich, daß hier nur von den eigentlichen Grund- und Freiheitsrechten des 
Tit. II und nicht von den Bestimmungen des Titels über Wehrpflicht 
und Kriegswesen die Rede ist.) Die Meinung Zorns, daß die Ent- 
wicklung der Grundrechte durch den „nationalen Gesichtspunkt“ beherrscht 
sei und daß es sich bei jenen „Überall um die verfassungsmäßige Ab- 
grenzung des Staatsvolkes, um den Ausdruck von Gedanken des nationalen 
Stolzes und der nationalen Ehre“, um Rechte handle, die „der Staat 
seinem Volk verbürgt“ — ist geschichtlich wie dogmatisch unhaltbar 
(grundsätzlich zustimmend auch Frisch a. a. O. 256, der aber für Preußen 
Zorms Ansicht teilt) und steht in vollem Widerspruch mit der Wirklichkeit 
unseres positiven Rechts, welches die Freiheit der Person und des Eigen- 
tums, die Glaubensfreiheit und die Gleichberechtigung der Konfessionen, 
Preßfreiheit, Gewerbefreiheit, die Freiheit der Berufswahl, das Briefge- 
heimnis usw. keineswegs so wie die staatsbürgerlichen Rechte von dem Besitz 
der Staatsangehörigkeit abhängig macht. Was Tit. II „verfassungsmäßig 
abgrenzt“, ist nicht das „Staatsvolk“ im Gegensatz zu den Fremden, 
sondern die Staatsgewalt im Verhältnis zu der Freiheit der ihr unter- 
worfenen Personen ohne Unterschied der Nationalität. Diese Ab- 
grenzung beruht nicht auf dem Prinzip einer grundsätzlichen Sonder- 
stellung der Fremden, sondern umgekehrt auf dem Grundsatz, daß 
der Fremde dem Einheimischen in allen bürgerlichen Rechten 
und Pflichten gleichgestellt ist, soweit nicht das Gesetz ein 
anderes bestimmt. Daß die Verwaltung gegen den Ausländer 
andere und stärkere Rechte hat als dem Inländer gegenüber, ist nicht 
Regel, sondern Ausnahme. Solche Ausnahmen sind: das nachteilige 
Sonderrecht, unter welches das RVG vom 19. April 1908 (s. unten 
bei Art. 29, 30, S. 518ff.) die Ausländer stellt, sodann aber und be- 
sonders das Ausweisungsrecht. Kein Staat, auch Preußen nicht, ist 
verpflichtet, den Ausländer in seinem Gebiet zu dulden. Solange der Staat 
aber den Aufenthalt duldet, läßt er den Aufhältigen regelmäßig nach 
denselben Gesetzen leben wie den eigenen Untertan. Auch nach den- 
selben Verwaltungsgesetzen, einschließlich ihrer verfassungsrechtlich fest-
	        
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