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externum auch über ein Forum internum (Lehr-
gewalt, Schlüsselgewalt) verfügt, so kann sie und
nur sie auch einen bestimmten Glauben zur Ge-
wissenssache machen und auf die Glaubensrichtung
des Menschen einen ethischen Zwang ausüben,
dem auf seiten des Subjekts die Glaubenspflicht
entspricht. Wo immer aber die religiöse oder
irreligiöse Gesinnung sich in Bekenntnis, Opfer
und Liturgie nach außen sichtbarlich verkörpert,
da wird sie sofort von der äußern Rechtsordnung
ergriffen und kann je nach Befund sogar von der
Staatsgewalt entweder gesetzlich gebilligt (Staats-
kirche, Glaubensstaat) oder durch Gewaltmaß-
regeln unterdrückt (Bordelumsche Rotte, Wieder-
täufer) oder lediglich geduldet werden. Einem
physischen Zwang ist jedoch die Kirche grund-
sätzlich abhold, wie Papst Leo XIII. in seiner
Enzyklika „Immortale Dei“ vom 1. Nov. 1885
eigens hervorhebt (s. Denzinger a. a. O. u. 1875):
Atque illud qucque magnopere cavere Ec-
clesia solet, ut ad amplexandam fidem catho-
licam nemo invitus cogatur, quia quod sa-
pienter Augustinus monet: Credere non
potest (homo) nisi volens. Obschon diese allein
vernünftige Maxime im Kirchenrecht zunächst auf
die Ungetauften sich bezieht, so findet sie dennoch
auch auf alle jene Akatholiken sinngemäße An-
wendung, welche in ihrer Religion geboren, ge-
tauft und erzogen sind und nach katholischer Auf-
fassung zu den sog. materiellen Häretikern gehören
(s. u.). Gegen formelle Häretiker und Apostaten
hingegen greift die Kirche zu Strafen, die sich
heute jedoch in der Hauptsache auf Exkommuni-
kation, Irregularität usw. beschränken.
II. Die praktisch-Hürgerliche Koleranz. —
Ihre Pflichtmäßigkeit aus dem Naturgebot der
allgemeinen Menschenliebe und dem christlichen
Gebot der übernatürlichen Nächstenliebe tiefer zu
begründen, ist Sache der philosophischen Ethik und
der Moraltheologie. 6
III. Die theoretisch-dogmatische Intoleranz
der Kirche. — Bei aller Hochhaltung des Ge-
bots der Liebe gegen alle Menschen verlangt die
katholische Kirche im Auftrag ihres göttlichen
Stifters die gläubige Annahme aller von ihr ge-
zusiten und zum Glauben vorgestellten Wahr-
eiten.
1. Als gottgesetzte Anstalt mit der geistlichen
Vollgewalt zu lehren, zu heiligen und zu regieren,
als alleinige „Säule und Grundfeste der Wahr-
heit" (1 Tim. 3, 15) kann die Kirche ohne Selbst-
Toleranz.
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Bestimmung als universale Heilsanstalt nicht nur
untreu werden, sondern auch die Axt an ihre
eignen Wurzeln anlegen und durch freiwilligen
Selbstmord enden. Solange es nur eine Wahr-
heit geben kann, ebensolange muß die Kirche gegen
alle falschen Religionen eine vornehm abwehrende
und stolz negierende Haltung annehmen. Sie be-
ruft sich dabei nicht bloß auf das Herrenwort
(Matth. 18, 17): „Wer die Kirche nicht hört, der
sei dir wie ein Heide und öffentlicher Sünder“,
sondern setzt auch in Theorie und Praxis das
vorbildliche Beispiel der Apostel fort. Döllinger
schreibt: „Die Apostel wußten von keiner Dul-
dung, keiner Nachsicht gegen Irrlehren. Pau-
lus belegt den Hymenäus und Alexander mit
förmlicher Exkommunikation; er übergab sie dem
Satan, d. h. er entzog ihnen alle Rechte und
Schutzmittel der kirchlichen Gemeinschaft, womit
sie wieder den außerhalb der Kirche waltenden
dämonischen Einflüssen verfallen waren. Und
solche Ausstoßung aus der Kirche sollte stets ge-
schehen; denn der Irrtum in religiösen Dingen
hat nach des Apostels Ausdruck eine „überwäl-
tigende Kraftwirkung“ (2 Thess. 2, 11), gleich
einem mächtigen Gift oder einem berauschenden
Trank; und die Ihrigen vor diesem Unheil zu be-
wahren, gehört zu den ersten Pflichten, zu den
dringendsten Aufgaben der Kirche“ (Christentum
und Kirche (1860)] 236). Diese Stellungnahme
ist so einleuchtend und natürlich, daß sie auch vor
dem Forum der Vernunft die Probe besteht.
Denn eine auf göttliche Einsetzung Anspruch er-
hebende Kirche, welche die Alleinberechtigung ihrer
Lehre, Verfassung, Sakramente usw. preisgäbe,
statt sie in Wort und Tat aufrecht zu erhalten,
sänke sofort zu einem bloß „freiwilligen Verein“
herab, welcher seinen Mitgliedern den Ein= und
Austritt völlig freistellt. Eine solche sich selbst
negierende und aufhebende Kirche könnte aber
unmöglich mehr die in der Heiligen Schrift ge-
zeichnete, wahre Kirche Christi verkörpern. Selbst
Kant hat diese Konsequenz unumwunden aner-
kannt: „Auch spricht die katholische Kirche in dem
Satz „Außer der Kirche kein Heil“ konsequenter
als die protestantische, wenn diese sagt, daß man
auch als Katholik selig werden kann; denn wenn
das ist, sagt Bossuet, so tut man ja am sichersten,
sich zur ersteren zu schlagen, denn noch seliger als
selig kann doch kein Mensch verlangen“ (Sämtl.
Werke hrsg. von Nosenkranz X (1888)] 318).
2. Im übrigen unterschied sich der altprote-
mord nicht zugeben, daß die Menschen unbeschadet stantische Standpunkt der Reformationskirchen
ihres ewigen Heils die Drohung ihres göltlichen unter der Rücksicht dogmatischer Intoleranz an
Meisters in den Wind schlagen (Mark. 16, 16): 6 Schroffheit und Unversöhnlichkeit in keinem wesent-
„Wer glaubt und sich tausen läßt, wird selig wer= lichen Stück vom katholischen. Denn auch sie ver-
den; wer nicht glaubt, wird verdammt werden.“ langten von ihren Anhängern die Verwerfung
Gäbe sie in Anerkennung eines unbegrenzten Op-
tionsrechts ihr Bekenntnis und ihren Kultus für
jedermann frei, wie der viel weitherzigere Staat
dies tun darf und muß, so würde sie ihrer gött-
lichen Grundverfassung sowie ihrer übernatürlichen.
aller Irrtümer, besonders der papistischen, unter
Strafe des Verlusts der ewigen Seligkeit. (Belege
siehe bei Joh. Janssen, Geschichte des deutschen
Volkes III 1/71 11899] 187 ff; Wetzer und Weltes
Kirchenlexikon VII7 (1891) 492; XI (1899)