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Politische Bedeutung des Artikels 19.
Es ist durchaus Reine merhwürdige Erscheinung, die einer be-
sonderen Erklärung bedürfte, wenn wir in der Bundesverfassung der
Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874 einer Exehution
begegnen, die sich ebenso wie die der deutschen Verfassungen gegen die
Einzelglieder, die Kantone richten Kann. Die Eidgenossenschaft, welche
bundesstaatlichen Tharakhter trägt, ist in weitem Umfange auf eine
Mitwirkung der Kantone bei der Durchführung ihrer Kompetenzen
angewiesen. Um aber eine solche Mitwirkung im gegebenen Falle
auch erzwingen zu hönnen, müssen ihr Maßregeln zu Gebote stehen,
um den widerstrebenden Kanton zum Gehorsam zu zwingen. Art. 27
der Bundesverfassung legt den Kantonen die Pflicht auf, für genügen-
den Primarunterricht unter ausschließlich staatlicher Leitung bei unent-
geltlichem Ochulzwange zu sorgen. Eine Beeinträchtigung der Glaubens-
und Gewissensfreiheit ist untersagt. Der Artikel schließt mit dem Satze:
„Gegen Kantone, welche diesen Verpflichtungen nicht
nachkommen, wird der Bund die nötigen Verfügungen treffen.“
In Art. 84 Ziff. 8 gibt die Verfassung der Bundesversammlung
die Befugnis:
„Maßregeln, welche die Handhabung der Bundesverfas-
sung, die Garantie der Kantonalverfassungen, die Erfüllung
der bundesmäßigen Verpflichtungen zum Zweche haben,“ zu
ergreifen.
Damit ist zunächst das Recht der Bundesversammlung festgestellt,
im Wege eines Zwangsverfahrens die Erfüllung bundesmäßiger Ver-
pflichtungen herbeizuführen. Zwar bestimmt die Verfassung nicht,
welcher Art diese Maßregeln sein sollen, jedoch werden diese äußersten
Falles in der Verwendung militärischer Machtmittel ihren Ausdruck
finden müssen, weil wie im Gebiete der deutschen Reichsverfassung die
Erreichung der Bundeszweckhe eine Mitwirkung der Einzelstaaten be-
dingt, zu deren Erzwingung die dem Bunde zur Verfügung stehende
Militärgewalt die beste Handhabe bietet. Bei der nach Art. 18 be-
stehenden allgemeinen Wehrpflicht ist ein solches Vorgehen gegen den
ungehorsamen Kanton seitens des Bundes sehr wohl möglich, wenn
auch nach Art. 19 das Bunde3sheer in erster Linie aus den Truppen-
Rörpern der einzelnen Kantone zusammengesetzt ist. Das Wasserpolizei-
gesetz vom 22. Juni 1877 spricht der Eidgenossenschaft das Recht zu,
bei Nachlässigkeit der Kantone auf deren Kosten die gesetzlich gebotenen
Maßregeln selbst aus zuführen, ja sogar die zur Ausführung der bundes-
gesetzlichen Normativen erforderlichen nationalen Gesetze und Ver-
ordnungen an Stelle der Kantone und für diese mit Rechtsverbindlich-
keit selbst zu erlassen. Damit ist ohne Zweifel der Eidgenossenschaft