422 J. Hatschek, Die parlamentarische Regierung.
Der König wählt seine Minister ausschliesslich nach eigenem Gutbefinden. Sie sind seine
Vertrauensmänner, nicht die des Reichstags. Sie beraten den König im Staatsrat, können aber,
wenn sie bei Abgabe ihres Rates „nicht die wahren Interessen des Landes wahrgenommen haben“, vom
Verfassungsausschusse dem Reichstage angezeigt werden, welcher hierauf an den König die schrift-
liche Bitte richtet, die betreffenden Minister ihrer Stellen im Staatsrat zu entheben. ($ 107 der
Verfassung.) Desgleichen können sie auf Veranlassung des Verfassungsausschusses, der die Staats-
ratsprotokolle zu prüfen hat, durch den Justizanwalt des Reichstags vor dem Reichsgericht angeklagt
werden, wenn sie offenbar gegen das Grundgesetz oder gegen andere Gesetze gehandelt oder eine
Übertretung dieser Gesetze angeraten oder Vorstellungen gegen eine solche Uebertretung zu machen
versäumt haben u.a. m., insbesondere wenn sie es versäumt haben, ihre Gegenzeichnung zu einem
rechts- oder verfassungswidrigen Beschlusse des Königs zu verweigern ($ 106 der Verf.).
Trotzdem nun dieser Dualismus verfassungsmässig festgelegt worden ist, zeigt sich auch hier,
dass die Parlamentspraxis bereits ihre Verfassungsumbildungen in wichtigen Punkten vorgenommen
hat, welche die oberste Leitung des Staatswesens mit der Zeit ganz in die Hände des Reichstags insbe-
sondere der2. Kammer(Volksvertretung)spielen werden.°) Schon das hli liche Budgetrecht de
Dairhat Ink nı +1! 1 vr + 3: Ir.nf. 13] 1.3:,.D.:he+
ver
und gibt, sowie es nach der Verfassung besteht, der zweiten Kammer eine überragende Stellung,
insofern bei Widerspruch zwischen beiden Kammern inbezug auf die Beschlüsse, die zur Etats-
regelung führen, zwar jede Kammer für sich abstimmt, aber diejenige Meinung durchdringt, für
welche die zusammenzurechnenden Stimmen der meisten Mitglieder der beiden Kammern abge-
geben worden sind. ($ 65 der Reichstagsordnung.) Da die zweite Kammer nun eine grössere Anzahl
von Mitgliedern hat als die erste, etwa 230 gegen 150, so nimmt die zweite Kammer in Budget-
fragen eine Vorrangstellung ein.) Dazu kommt noch, dass die Parlamentspraxis eine Reihe von
Umbildungen an dem bestehenden Recht durchgeführt hat. Zunächst hat über die Verfassung
hinaus die Praxis ein Motionsrecht der einzelnen Reichstagsabgeordneten in Fragen des Voranschlags
eingebürgert, während die Verfassung nur die königliche Initiative in diesen Fragen voraussetzt.
Sodann ist durch die Parlamentspraxis eine weitgehende Spezialisierung der Voranschlagsposten
herbeigeführt, welche den König hindern, auch innerhalb der Haupttitel des Etats über die Ver-
wendung der Summen zu entscheiden. Auch über Ersparnisse, welche bei einem Etatposten ge-
macht werden, darf der König, trotzdem die Verfassung dem nicht entgegensteht, nicht frei ver-
fügen, denn auf diesem Gebiete hat bereits der Reichstag durch ein Schreiben vom 12. Mai 1841
bestimmt, dass Ersparnisse, welche innerhalb des ein oder anderen Haupttitels gemacht werden, zu
solchen von den Reichsständen nicht geprüften Ausgaben für Zwecke innerhalb des Titels nur dann
zu verwenden sind, wenn diese Zwecke durch ein unabweisliches Bedürfnis hervorgerufen sind und
zufälligen Charakter haben. Nicht darf jedoch der König solche Ersparnisse zur Bestreitung von
jährlichen Gehältern etc. verwenden. Ueber die Verfassung hinaus hat sich in der Praxis der Grund-
satz etabliert, dass der Reichstag jede Finanzeinnahme bewilligen und insbesondere zwischen den
verschiedenen Besteuerungsformen nach freiem Ermessen zu wählen in der Lage ist.
Nicht bloss aus dem Gebiete des Etatwesens, sondern auch auf dem nach der Verfassung
scharf abgegrenzten Gebiete königlicher Machtvollkommenheit macht sich die Reichstagspraxis
im Sinne einer Einengung königlicher Prärogative geltend, ohne dass von seiten der Krone Wider-
stand erhoben wird.®)
Drei Vorstösse hat in neuerer Zeit der Reichstag über den Rahmen der Verfassung hinaus
vorgenommen. Der vom Reichstag bestellte Justizanwalt (Justitieombudsman) begnügt sich nicht
damit ($ 99 der Verf.), „wenn er es für nötig hält, den Beratungen und Urteilsfindungen des Höchsten
Gerichtshofes, des Oberverwaltungsgerichts, der niederen Justizrevision, der Hofgerichte, der Ver-
waltungskollegien oder der an ihrer Stelle eingerichteten Verwaltungsbehörden und aller unteren
°) Siehe darüber und z. folgenden Fahlbeck Statsvetenskaplig Tidskrift 1904 VII p. 98 ff. und Reuters-
kiöld, bendort Bd. XIV (1911) p. 297 ff.
*) Sicho darüber und zum Folgenden Otto Varenius, Das schwedische Budgetrecht in dor Festgabe für
Kohler, Stutigart 1909 S. 186 ff.
*} Siohe darüber Reuterskiöld am oben angeführten Ort Bd. XIV S. 301 ff.