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Aus fremden Kolonien und Droduktionsgebieten.
Materialien zur afrikanischen Eingeborenen- und Krbeiterpolitik.
Die neue Rolonlalpolltih Frankreichs.“)
Unter der alten Regierungsform im 17. und
18. Jahrhundert war die Kolonialpolitik Frank-
reichs, ebenso wie diejenige Englands, eine Er-
oberungs= und Beherrschungspolitik. Zu dieser
Zeit war der Zweck der Siedlung die Gründung
vollständiger und dauerhafter, von Franzosen
bevölkerter Niederlassungen auf neuen Erdteilen;
es waren wahrhafte Zweigeinrichtungen des
Mutterlandes: es waren Neu-Frankreich, Loui-
siana, Französisch= Guyana, das orientalische
Frankreich.
Und man entriß sich beständig mit den
Waffen den Besitz dieser ersten Ansiedlungen, als
ob es sich um neue Provinzen des Mutterlandes
selbst gehandelt hätte; man machte sich die Vor-
herrschaft zur See oder die Überlegenheit über
die Völker streitig.
Im 19. Jahrhundert, nach der Zergliederung
unseres ersten Kolonialreiches zum Vorteile
Englands, wurden die Ausbreitungsgedanken von
Erwägungen eingegeben, die allem Eroberungs-
geiste fremd waren: dem kriegerischen Kampfe
war der wirtschaftliche Kampf gefolgt. Es ist
die Ausdehnungspolitik durch den Handel und
das Gewerbe, die unter der Restauration beginnt
und bis heute — unter dem Einflusse der Handels-
und gewerblichen Entwicklung Frankreichs selbst
— verfolgt wird.
Im Laufe dieses Jahrhunderts wurden die
kolonialen Niederlassungen nach einer neuen Art ge-
schaffen, die der Marineminister schon 1821 auf der
Tribüne der Kammer angezeigt hat: „erwerben
statt erobern, denn der Besitz der Gebiete, die
man erwirbt, ist sicherer als der eroberte Besitz“.
In dem Ausdruck „Eroberung“ muß hier der
Kampf zwischen zwei fremden Völkern um den
Besitz eines Gebietes verstanden werden, nicht die
unmittelbare Erwerbung dieses Gebietes durch
bewaffnete Gewalt. So ist der Wiederaufbau
unseres neuen Kolonialreiches während des
19. Jahrhunderts durch die unmittelbare Er-
werbung von überseeischem Land betrieben
worden; dieses soll als Absatzgebiet für unsern
Handel und unser Gewerbe dienen: es waren
Erwerbungen, die zuweilen mit den Waffen, aber
oft auch durch das friedliche Werk der Wissen-
schaft (Erforschungen, Missionen, Schutzverträge)
errungen wurden. Hauptsächlich im letzten Teile
des Jahrhunderts, unter der dritten Republil,
hat sich diese neue Politik der „dfried lichen
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Zeisi aunndee en schristen der 5 eputiertenkammer,
Durchdringung“ mehr und mehr gefestigt.
Heute, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts,
legt die Regierung der Republik vor den Augen
der gesamten Menschheit Ehre ein, indem sie die
Kolonialpolitik Frankreichs, wie ihre auswärtige
Politik, dem allgemeinen Frieden und der all-
gemeinen Zivilisation dienstbar gemacht hat. Sie
hat kühn die Lösung der kolonialen Streitpunkte
auf dem friedlichen Wege der internationalen
Vereinbarungen ins Auge gefaßt; da ist zunächst
der französich-englische Vertrag vom 8. April
904, der der freundschaftlichen Regelung der
Grenzschwierigkeiten oder Einflußgebiete gilt,
überall, wo die beiden Länder in Berührung
kommen; dann wird es zu einem englisch-franzö-
sisch-italienischen Vertrage kommen, der den Zweck
hat, die wechselseitige Betätigung der drei Länder
in Abessinien zu bestimmen.
Die Republik begnügt sich also nicht, zu
wiederholen, daß das Zeitalter der kolonialen
Eroberungen geschlossen ist; sie bemüht sich
gleicherweise, alle Ursachen der den vorhandenen
Zuständen anhaftenden Schwierigkeiten zu ver-
ringern. Unsere heute mit der auswärtigen
Politik verbundene Kolonialpolitik muß ausschließ-
lich auf den Frieden und die Arbeit gerichtet,
auch sie muß von den Bestrebungen der republi-
kanischen Partei eingegeben sein; von einem
Kollegen, Herrn Dubief, wurde dies in seinem
Bericht über den Haushalt des Ministeriums der
auswärtigen Angelegenheiten für 1905 so beredt
ausgedrückt. Es hieß in diesem Bericht:
„Frankreich, dem man ehemals seinen Mili-
tarismus und seine kriegslustige Neigung vor-
werfen konnte, das Frankreich der großen Helden-
zeiten, hat der Republik des Friedens den Platz
abgetreten; so gewiß es desselben Heldenmutes
wie ehedem fähig ist, wenn schmerzliche Möglich-
keitsfälle sich ihm aufdrängen würden, so hat es
heute nur den Schwung für die fruchtbaren Er-
oberungen der Wissenschaft und der Arbeit."“
Dann muß Frankreich auch in der Erfüllung
seines Kolonisationswerkes handeln. Wegen der
geringen Dichtigkeit seiner Bevölkerung und der
tropischen Lage seiner Kolonien hat es nicht mehr
den Ruhm zu erstreben, in der Ferne „Neu-
Frankreich" zu gründen; heute kolonisiert es
nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes,
es „Zivilisiert". Frankreich ist also an einem
Zeitabschnitt seiner Entwicklung angekommen, wo
es seine Kolonialpolitik nach dem einzigen
Gesichtspunkt richten muß, der möglich bleibt,
nach dem der „wirtschaftlichen Eroberungen“.