Full text: Deutsches Kolonialblatt. XIX. Jahrgang, 1908. (19)

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Aus fremden Kolonien und Droduktionsgebieten. 
Materialien zur afrikanischen Eingeborenen- und Krbeiterpolitik. 
Die neue Rolonlalpolltih Frankreichs.“) 
Unter der alten Regierungsform im 17. und 
18. Jahrhundert war die Kolonialpolitik Frank- 
reichs, ebenso wie diejenige Englands, eine Er- 
oberungs= und Beherrschungspolitik. Zu dieser 
Zeit war der Zweck der Siedlung die Gründung 
vollständiger und dauerhafter, von Franzosen 
bevölkerter Niederlassungen auf neuen Erdteilen; 
es waren wahrhafte Zweigeinrichtungen des 
Mutterlandes: es waren Neu-Frankreich, Loui- 
siana, Französisch= Guyana, das orientalische 
Frankreich. 
Und man entriß sich beständig mit den 
Waffen den Besitz dieser ersten Ansiedlungen, als 
ob es sich um neue Provinzen des Mutterlandes 
selbst gehandelt hätte; man machte sich die Vor- 
herrschaft zur See oder die Überlegenheit über 
die Völker streitig. 
Im 19. Jahrhundert, nach der Zergliederung 
unseres ersten Kolonialreiches zum Vorteile 
Englands, wurden die Ausbreitungsgedanken von 
Erwägungen eingegeben, die allem Eroberungs- 
geiste fremd waren: dem kriegerischen Kampfe 
war der wirtschaftliche Kampf gefolgt. Es ist 
die Ausdehnungspolitik durch den Handel und 
das Gewerbe, die unter der Restauration beginnt 
und bis heute — unter dem Einflusse der Handels- 
und gewerblichen Entwicklung Frankreichs selbst 
— verfolgt wird. 
Im Laufe dieses Jahrhunderts wurden die 
kolonialen Niederlassungen nach einer neuen Art ge- 
schaffen, die der Marineminister schon 1821 auf der 
Tribüne der Kammer angezeigt hat: „erwerben 
statt erobern, denn der Besitz der Gebiete, die 
man erwirbt, ist sicherer als der eroberte Besitz“. 
In dem Ausdruck „Eroberung“ muß hier der 
Kampf zwischen zwei fremden Völkern um den 
Besitz eines Gebietes verstanden werden, nicht die 
unmittelbare Erwerbung dieses Gebietes durch 
bewaffnete Gewalt. So ist der Wiederaufbau 
unseres neuen Kolonialreiches während des 
19. Jahrhunderts durch die unmittelbare Er- 
werbung von überseeischem Land betrieben 
worden; dieses soll als Absatzgebiet für unsern 
Handel und unser Gewerbe dienen: es waren 
Erwerbungen, die zuweilen mit den Waffen, aber 
oft auch durch das friedliche Werk der Wissen- 
schaft (Erforschungen, Missionen, Schutzverträge) 
errungen wurden. Hauptsächlich im letzten Teile 
des Jahrhunderts, unter der dritten Republil, 
hat sich diese neue Politik der „dfried lichen 
8 Druchkschrif D i 
Zeisi aunndee en schristen der 5 eputiertenkammer, 
  
Durchdringung“ mehr und mehr gefestigt. 
Heute, an der Schwelle des 20. Jahrhunderts, 
legt die Regierung der Republik vor den Augen 
der gesamten Menschheit Ehre ein, indem sie die 
Kolonialpolitik Frankreichs, wie ihre auswärtige 
Politik, dem allgemeinen Frieden und der all- 
gemeinen Zivilisation dienstbar gemacht hat. Sie 
hat kühn die Lösung der kolonialen Streitpunkte 
auf dem friedlichen Wege der internationalen 
Vereinbarungen ins Auge gefaßt; da ist zunächst 
der französich-englische Vertrag vom 8. April 
904, der der freundschaftlichen Regelung der 
Grenzschwierigkeiten oder Einflußgebiete gilt, 
überall, wo die beiden Länder in Berührung 
kommen; dann wird es zu einem englisch-franzö- 
sisch-italienischen Vertrage kommen, der den Zweck 
hat, die wechselseitige Betätigung der drei Länder 
in Abessinien zu bestimmen. 
Die Republik begnügt sich also nicht, zu 
wiederholen, daß das Zeitalter der kolonialen 
Eroberungen geschlossen ist; sie bemüht sich 
gleicherweise, alle Ursachen der den vorhandenen 
Zuständen anhaftenden Schwierigkeiten zu ver- 
ringern. Unsere heute mit der auswärtigen 
Politik verbundene Kolonialpolitik muß ausschließ- 
lich auf den Frieden und die Arbeit gerichtet, 
auch sie muß von den Bestrebungen der republi- 
kanischen Partei eingegeben sein; von einem 
Kollegen, Herrn Dubief, wurde dies in seinem 
Bericht über den Haushalt des Ministeriums der 
auswärtigen Angelegenheiten für 1905 so beredt 
ausgedrückt. Es hieß in diesem Bericht: 
„Frankreich, dem man ehemals seinen Mili- 
tarismus und seine kriegslustige Neigung vor- 
werfen konnte, das Frankreich der großen Helden- 
zeiten, hat der Republik des Friedens den Platz 
abgetreten; so gewiß es desselben Heldenmutes 
wie ehedem fähig ist, wenn schmerzliche Möglich- 
keitsfälle sich ihm aufdrängen würden, so hat es 
heute nur den Schwung für die fruchtbaren Er- 
oberungen der Wissenschaft und der Arbeit."“ 
Dann muß Frankreich auch in der Erfüllung 
seines Kolonisationswerkes handeln. Wegen der 
geringen Dichtigkeit seiner Bevölkerung und der 
tropischen Lage seiner Kolonien hat es nicht mehr 
den Ruhm zu erstreben, in der Ferne „Neu- 
Frankreich" zu gründen; heute kolonisiert es 
nicht mehr im eigentlichen Sinne des Wortes, 
es „Zivilisiert". Frankreich ist also an einem 
Zeitabschnitt seiner Entwicklung angekommen, wo 
es seine Kolonialpolitik nach dem einzigen 
Gesichtspunkt richten muß, der möglich bleibt, 
nach dem der „wirtschaftlichen Eroberungen“.
	        
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