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Verschiedene Oitteilungen.
Das kolonlale Verwaltungsivitem Franbreichs.)
Unter dem Titel „Report by tbe Hon.
Reginald Lister, His Majesty's Minister at Paris,
upon the French Colonies“ ist dem englischen
Unterhause im Februar 1908 ein Bericht über
die französischen Kolonien vorgelegt worden,
der im allgemeinen eine Zusammenfassung der
Rapports der französischen Berichterstatter des
Senats und der Deputiertenkammer (Gervais,
St. Germain, Lucien Hubert u. a.) darstellt und
dessen allgemeiner Teil wegen der prägnanten
Form, in der er das neue französische Kolonial-
programm darstellt, von allgemeinem Interesse
ist. In folgendem wird ein Auszug aus diesem
Teil gegeben.
Der auffallendste Zug der französischen Kolo-
nialpolitik während der ersten sechs Jahre des
20. Jahrhunderts ist zweifellos der Triumph der
Idee, daß die Politik der „Domination“ und
„Assimilation“ unpraktisch ist, und daß an ihre
Stelle eine Politik der „Association“ treten muß.
Diese Politik, den Eingeborenen in die Ver-
waltung seines Landes einzugliedern, ihn an der
moralischen und materiellen Wohlfahrt, welche
durch die Segnungen des französischen wirtschaft-
lichen und sozialen Forrtschritts eingeführt wurde,
teilnehmen zu lassen, wurde zuerst im Jahre 1903
durch Mr. Dubief befürwortet.
Ihm folgten auf demselben Wege die Kolonial-
minister Mr. Clémentel und Mr. Leygues.
Der letztere hat auf einem Bankett des Kolonial-
kongresses zu Paris es klipp und klar ausge-
sprochen, daß die Politik der Assimilation ver-
hängnisvoll wäre und deshalb verlassen werden
müsse. Zweifellos existieren, wie er sich aus-
drückte, in den Eigentümlichkeiten der verschiedenen
Rassen, welche die Erde bevölkern, Aquivalente
aber keine Identitäten. Warum sollen deshalb
die Franzosen versuchen, ihre Geisteseigenschaften,
ihren Geschmack, ihre Gewohnheiten, ihre Gesetze
Völkern aufzulegen, bei denen die Begriffe Familie,
Gesellschaft und Eigentum einen ganz andern
Sinn haben? Der Bersuch würde nicht nur nutz-
los, sondern auch gefährlich sein; denn unbedingt
muß er Gefühle des Mißtrauens und der Ab-
neigung erwecken.
Die verhängnisvollen Wirkungen, welche die
Politik der Assimilation mit sich bringt, sind nach
den Anhängern der Association folgende:
1. Der Geist des Formalismus und die
Liebe zur Einförmigkeit, die die Politik der
"*) Vgl. „Deutsches Kol. Bl.“ 1008, S. 187 ff. u.
S. 241 ff.
Asfimilation auszeichnen, lassen die besonderen
Bedürfnisse der einzelnen Kolonien unberücksichtigt.
2. Der Assimilation haftet der Geist der
Herrschsucht an. Sie versucht daher, oft in
brutaler Weise, ihre eigenen Regeln und Methoden
aufzuzwingen, stürzt an einem Tage Organisationen,
die Jahrhunderte bestanden haben und erzeugt so
Gefühle des Hasses und Revolution.
3. Dadurch, daß die Politik der Asfimilation
auf einer absolut direkten Verwaltung bestand,
hat sie jede französische Besitzung mit einer kom-
plizierten Verwaltungsmaschinerie beglückt, deren
geringstes Übel in einer schweren Belastung des
Staatsschatzes besteht.
Aus der tropischen Lage und der dünnen
Bevölkerung der meisten französischen Kolonien
wird geschlossen, daß die Schaffung von Kolonien
in dem Sinne der Ansiedlung von Franzosen,
in denen französische Methoden, Gewohnheiten
und Organisationen absolut herrschen, nicht in
Frage kommt. Der Wert der Kolonien für
Frankreich ist kommerzieller Natur; ihre Er-
oberung soll eine wirtschaftliche sein und das
Objekt der französischen Kolonialpolitik sollte nicht
die Ansetzung der franzöfischen Rasse in neuen
Ländern sein, wie es in alten Tagen der Fall
war, z. B. in den Antillen oder in Kanada,
sondern die Förderung der wirtschaftlichen Ent-
wicklung dieser Länder, um ihre kommerzielle
Entwicklung sicher zu stellen. Es soll nach den
Worten von Victor Hugo ihre Aufgabe sein,
„mehr zu zivilisieren, als zu kolonisieren“. Unter
diesem Gesichtspunkte erscheint es als die erste
Aufgabe der französischen Regierung, mit allen
verfügbaren Mitteln die moralische und wirtschaft-
liche Evolution der eingeborenen Bevölkerung zu
beschleunigen, in der Erkenntnis, daß der beste
Weg, um aus den Kolonien Nutzen zu ziehen,
darin besteht, die Eingeborenen, welche sie be-
wohnen, zu bereichern. Einerseits wird die
Produktionskraft der Eingeborenen erhöht, wo-
durch das Mutterland immer mehr in den Stand
gesetzt wird, aus seinen Kolonien die Produkte,
welche der eigene Boden nicht hervorbringt, zu
beziehen, und sich das Rohmaterial zu verschaffen,
welches es sonst vom Auslande beziehen müßte.
Anderseits wird die Konsumtionskraft der Ein-
geborenen vergrößert, und das Mutterland kann
demzufolge die Ausführung seiner Fertigprodukte
nach den Kolonien vermehren.
Aber diese neue Auffassung der Kolonial=
politik verlangt eine Umbildung der ganzen
französischen Kolonialorganisation, schließt die Ge-
währung eines großen Maßes von Autonomie