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Ich wende mich jetzt zu den einzelnen Punkten
der Rede des Herrn Balfour. Balfour spricht
zuerst von Belgien. Der Herr Reichskanzler hat
im vorigen Monat im Reichstag für jeden, der
hören wollte, erklärt, daß wir nicht beabsichtigen,
Belgien in irgend einer Form zu behalten. Belgien
solle nach dem Kriege als selbständiges Staats-
wesen, keinem als Vasall unterworfen, wieder-
erstehen. Meine Herren! Der Wiederher-
stellung Belgiens steht nichts im Wege als
der Kriegswille unserer Feinde! Eine wie
geringe Rolle aber die Rücksicht auf Belgien heute
in den Rechnungen der Entente spielt, zeigt am
deutlichsten ein Zitat aus der amerikanischen Presse,
das Englands Propaganda-Minister, Lord North=
cliffe, in einem seiner Blätter mit begeisterter Zu-
stimmung abgedruckt. Die „New York Times“
schreibt:
„Deutschlands Beteuerung, daß es nicht
Absicht hat, Belgien zu behalten, hat weder
Interesse noch Wert. Die Alliierten werden
Deutschland aus Belgien und Frankreich
vertreiben“.
Hierzu sagt Lord Northcliffe („Evening News“
vom 16. Juli 1918):
„Wir sind hocherfreut, eine so klare und
klingende Stimme aus Amerika zu ver-
nehmen. So soll man sprechen: Deutsch-
land soll vernichtet werden, im Sinne der
„New York Times“. Wir meinen vernichtet
durch blutige und absolut unheilvolle Nieder-
lage auf dem Schlachtfelde, so daß von
Deutschland nichts übrigbleibt, als die
Knochen seiner toten Soldaten in Frank-
reich und Belgien. Es gibt keinen anderen
Weg“.
So sprechen die Beschützer, die um Belgiens
willen das Schwert ergriffen haben.
Die zweite Anklage Balfours geht gegen
unsere Ostpolitik. Ich antworte ihm darauf: Der
Brest-Litowsker Friede kam zustande auf Grund
der einen großen Übereinstimmung zwischen der
russischen und der deutschen Regierung, daß die
jahrhundertelang unterdrückten Fremdvölker Ruß-
lands das von ihnen erstrebte nationale Eigen-
dasein erhalten sollten. Diese lÜbereinstimmung
über das Schicksal der Randvölker ist eine welt-
bedeutende Tatsache, die sich aus der Geschichte
nicht mehr auslöschen läßt. Nicht über das Ziel,
wohl aber über die Methoden und Wege, die
zum Eigendasein der Völker führen sollten, gingen
die russische und deutsche Auffassung auseinander.
Unsere Auffassung ist nach wie vor, daß der
Weg zur Freiheit nicht über Anarchie und
Massenmord führen darf. Zwischen der ersten
Sprengung der Fesseln und der vollen Selbst-
bestimmungsfähigkeit der Randvölker liegt ein na-
türliches Ubergangsstadium. Bis sich die ordnenden
Kräfte in den verschiedenen Ländern zusammen-
finden, fühlt sich Deutschland zum Schutz dieser
Gemeinwesen berufen, im eigenen wie im allge-
meinen Interesse, wie denn auch tatsächlich Deutsch-
land von nationalen Mehrheiten und nationalen
Minderheiten gerufen worden ist.
Der Brest-Litowsker Frieden ist ein Rahmen;
das Bild, das darin entstehen wird, ist erst in
seinen ersten Anfängen entworfen. Die deutsche
Regierung ist entschlossen, den erbetenen und ge-
gebenen Schutz nicht zu einer gewaltsamen An-
nexion zu mißbrauchen, sondern den bisher unter-
drückten Völkern den Weg zur Freiheit, Ordnung
und gegenseitigen Duldung zu öffnen.
Meine Herren! England hat das Recht ver-
wirkt, moralisch für die russischen Randstaaten in
die Schranken zu treten. In ihrer namenlosen
Leidenszeit während des Krieges haben sie sich
einmal über das andere an England um Unter-
stützung ihrer Sache gewandt, sie ist ihnen ständig
versagt geblieben. Es gab eine Zeit, in der
England das zarische Rußland schärfer bekämpfte,
als irgendeine andere Nation. Als aber während
des Krieges das zaristische Rußland im eigenen
Lande unterdrückte, raubte und mordete, da hat
England geschwiegen, ja mehr als das, es hat
den russischen Tatbestand vor der Welt beschönigt
und gefälscht. Und so mordete Rußland dank
Englands moralischer Unterstützung mit einer un-
erhörten, durch das Gewissen der Welt nicht ge-
hemmten Schwungkraft. Der Hehler darf nicht
Richter sein! Das Problem der Fremdvölker,
ja, das ganze russische Problem wird von
England ausschließlich unter dem Gesichts-
punkt der Erleichterung des englischen
Krieges betrachtet. Jede Verfassung ist Eng-
land recht, die Rußland als Kriegsmaschine tang-
lich erhält. Und würde Iwan der Schreckliche
auferstehen und Rußland zu neuem Kampfe zu-
sammenschweißen, so würde er den Eugländern
ein willkommener Bundesgenosse im Kreuzzug für
Freiheit und Recht sein. Kann aber Rußland
keinen Krieg gegen Deutschland mehr führen,
dann wenigstens einen Bürgerkrieg, damit keine
Ruhe an Deutschlands Ostfront entstehen kann.
Die Anerkennung der Tschecho-Slowaken, dieser
landlosen Räuberbanden, als verbündete Macht
ist der logische Schlußstein der eigentümlichen
Form englischer Russeufreundschaft. Die wirt-
schaftliche Notlage der von uns besetzten Gebiete
ist ohne Zweifel schwer, aber es ist Zynismus im
englischen Munde, davon bedauernd zu reden,
denn Englands Hungerblockade richtet sich gegen
die besetzten Gebicte ebenso, wie sie sich gegen uns
richtet, gegen die Neutralen, gegen die ganze Welt!