94 I. 1. Deutschland nach dem Westphälischen Frieden.
hervor. Und doch erscheinen uns heute jene gewaltigen Kämpfe gegen
den Jesuitismus und das erstarrte Lutherthum ebenso bahnbrechend,
ebenso radical wie die politischen Thaten des großen Kurfürsten. Sie
haben den festen Grund gelegt für Alles was wir heute deutsche Geistes-
freiheit nennen. Aus den reiferen Werken von Leibniz und Thomasius,
aus Pufendorf's Schrift über das Verhältniß von Staat und Kirche
spricht schon der freie Geist einer unbedingten Duldung, welcher im Aus-
lande weder Locke noch Bayle ganz zu folgen vermochte.
Dem nächsten Menschenalter gebrach die schöpferische Kraft fast völlig;
es waren die öden Tage, da Kronprinz Friedrich die bestimmenden Eindrücke
seiner Jugend empfing. Eine unfruchtbare Vielwisserei beherrschte den
Markt der Gelehrsamkeit, und ihren weitschweifigen Werken fehlte, was der
Rheinsberger Musenhof vor Allem schätzte, Maß, Schärfe, Bestimmtheit
des Ausdrucks. Gottsched's Dichtung folgte sklavisch den steifen Regeln
der französischen Poetik, ohne sich jemals aus breitspuriger Plattheit zu
dem rednerischen Pathos der Romanen zu erheben. Kursachsen war das
einzige deutsche Land, das sich geschmackvoller Bildung und einer frucht-
baren künstlerischen Thätigkeit rühmen konnte; aber die prächtigen Opern
und die reichen Barock-Bauten des Dresdner Hofes bezeichnen nur eine
phantastische Nachblüthe der wälschen Kunst, nicht einen Fortschritt unseres
nationalen Lebens. Gleichwohl stand das Wachsthum des deutschen Geistes
auch jetzt nicht still. Die gemeinfaßlichen Ergebnisse der Gedankenarbeit
der hochbegabten letzten Generation wurden allmählich dem Volke geläufig.
Die Philosophie Christian Wolff's vollzog eine Versöhnung zwischen Glau-
ben und Wissen, welche den Bedürfnissen des Zeitalters genügte, gab dem
heranwachsenden Geschlechte eine feste, in sich übereinstimmende Weltan-
schauung. Die Durchschnittsbildung der Mittelklassen fand ihren Frieden
in dem Glauben, daß Gott nach den Naturgesetzen wirke. Wolff ging
mit Absicht über die Schranken der gelehrten Welt hinaus, weckte in wei-
ten Kreisen die Lust zu denken und zu schreiben, gewöhnte die Gebildeten
ihr Scherflein beizutragen zu dem Werke der allgemeinen Aufklärung.
Zugleich wirkte der Pietismus in der Gesellschaft fort. Der rauhe Ton
tyrannischer Härte verschwand aus dem Familienleben. In den gefühls-
seligen Conventikeln der schönen Seelen begann der Cultus der Persön-
lichkeit. Das Leben jedes Einzelnen erhielt einen ungeahnten neuen Werth
und Inhalt: die Deutschen erkannten wieder, wie reich die Welt des Her-
zens ist, und wurden fähig, tief empfundene Werke der Kunst zu verstehen.
Und nun, urplötzlich wie die Macht des fridericianischen Staates
und überraschend stark wie sie, traten die in langen Jahren der Samm-
lung still gereiften Kräfte des deutschen Genius in den Kampf hinaus.
Im Jahre 1747 erschienen die ersten Gesänge von Klopstocks Messias.
Die Wärme und Innigkeit des Gefühls, die in den Gebeten und Tage-
büchern der Erweckten nur einen unreifen, oft lächerlichen Ausdruck ge-