158 I. 2. Revolution und Fremdbherrschaft.
zu verwirklichen suchte. Die Regierung stand noch immer sehr hoch über
ihrem Volke. Während die gehässigen Schmähschriften der Opposition sich
nach wie vor durch eine klägliche Gedankenarmuth auszeichneten, fanden
in den Kreisen des Beamtenthums alle die großen socialen Reformen des
folgenden Jahrzehnts schon jetzt eine gründliche Besprechung; selbst die
Aufhebung des Zunftwesens wurde bereits von J. G. Hoffmann em-
pfohlen. Doch es fehlte die Kraft, diese guten Gedanken dem wider-
strebenden Volke aufzuzwingen. Aus Rücksicht auf die „Opinion“ wurde
das Tabaksmonopol aufgehoben, das doch, richtig gehandhabt, eine sehr
ergiebige und für den Verkehr wenig beschwerliche Einnahmequelle werden
konnte. Als der wackere Struensee im Jahre 1798 die Ausgabe einer
mäßigen Summe Papiergeld vorschlug, da genügte eine leise Regung der
Unzufriedenheit im Berliner Handelsstande, und alle Minister erklärten
wie aus einem Munde, sie fühlten sich außer Stande eine so gehässige
Maßregel zu vertreten. Die Ohnmacht der Krone offenbarte sich nament-
lich an den sittlichen Zuständen der Hauptstadt. Während am Hofe an-
spruchslose Einfachheit und altväterlicher Anstand mit peinlicher Strenge
gehütet wurden, lebte die Berliner vornehme Welt, als sei dies Muster-
bild schlichter Familiensitte gar nicht vorhanden. Die Stadt zählte nun
schon 182,000 Einwohner; der Verkehr der höheren Stände zeigte bereits
die Freiheit großstädtischen Lebens, während in den Mittelklassen noch
ein schwerfälliges Pfahlbürgerthum vorherrschte. Die Geselligkeit wurde
zu einer verfeinerten Kunst, wie seitdem nie wieder in Deutschland.
Zügellos entfalteten sich Witz und Kritik; die Liederlichkeit und ein grau-
samer geistiger Hochmuth traten so keck heraus, daß selbst Goethe mit
einiger Scheu von diesem gefährlichen Völkchen sprach. In solcher Luft
erwuchsen Naturen von der unendlichen Empfänglichkeit und Reizbarkeit
Schleiermacher's, Virtuosen des Genusses und des Denkens wie Wilhelm
Humboldt und Friedrich Gentz, aber auch die eitlen Anempfinder und
Geistverkäufer des Varnhagen'schen Kreises, und Virtuosen des Verbrechens
wie die Giftmörderin Ursinus.
Im Einzelnen ist während dieses Jahrzehntes der halben Anläufe
und der wohlgemeinten Versuche manches Gute geschehen. Die Land-
wirthschaft erlebte eine Zeit großartiger Fortschritte; der Getreidepreis
stieg in den zwanzig Jahren seit Friedrich's Tode auf das Doppelte, die
Preise der Landgüter noch schneller, fast schwindelhaft hoch. Thaer lenkte
die Augen der Norddeutschen zuerst auf das Vorbild des englischen Land-
baues, und seit der beredte Vertheidiger der freien Arbeit in Möglin
seine Lehranstalt eröffnet hatte, wuchs unter den jüngeren Landwirthen
die technische Einsicht und die volkswirthschaftliche Bildung. Ohne Thaer's
Wirken wäre die Durchführung der Stein-Hardenberg'schen Gesetze kaum
möglich gewesen. Die noch überall im Reiche traurig verwahrlosten Land-
und Wasserwege fanden jetzt endlich ernste Beachtung. Durch Stein