Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Die Reichsverfassung. 7 
der Kraft des Gedankens zu beherrschen. Seine Seele tönte von jedem 
Athemzuge der Menschheit. Seine classische Literatur ward vielseitiger, 
kühner, menschlich freier, als die früher gereifte Bildung der Nachbar— 
völker. Hundertundfünzig Jahre nach dem Untergange der alten deutschen 
Cultur durfte Hölderlin das neue Deutschland also anreden: 
O heilig Herz der Völker, o Vaterland! 
Allduldend gleich der schweigenden Mutter Erd' 
Und allverkannt, wenn schon aus deiner 
Tiefe die Fremden ihr Bestes haben. 
Zugleich erwachte wieder die staatenbildende Kraft der Nation. Aus 
dem Durcheinander verrotteter Reichsformen und unfertiger Territorien 
hob sich der junge preußische Staat empor. Von ihm ging fortan das 
politische Leben Deutschlands aus. Wie einst fast um ein Jahrtausend 
zuvor die Krone von Wessex alle Königreiche der Angelsachsen zum Staate 
von England vereinigte, wie das Königthum der Franzosen von der Isle 
de France aus, das ganze Mittelalter hindurch, die Theilstaaten der 
Barone und Communen eroberte und bändigte, so hat die Monarchie 
der brandenburgisch-preußischen Marken der zerrissenen deutschen Nation 
wieder ein Vaterland geschaffen. Das harte Ringen um die Anfänge 
der Staatseinheit gelingt gemeinhin nur der derben bildsamen Lebens- 
kraft jugendlicher Völker; hier aber vollzog es sich im hellen Mittagslichte 
der neuen Zeit, gegen den Widerstand des gesammten Welttheils, im 
Kampfe mit den legitimen Gewalten des heiligen Reichs und den unzäh- 
ligen durch eine alte Geschichte verhärteten Gegensätzen des vielgestaltigen 
deutschen Lebens. Es war die schwerste Einheitsbewegung, die Europa 
erlebte, und nur der letzte, volle, durchschlagende Erfolg hat endlich die 
widerwillige Welt gezwungen, an das so oft aussichtslos gescholtene Werk 
zu glauben. — 
Von Kaiser und Reich konnte die Neugestaltung des deutschen Staates 
nicht mehr ausgehen. Die alte längst schon brüchige Reichsverfassung 
wurde seit dem Eindringen des Protestantismus zu einer häßlichen Lüge. 
Die letzten Folgen alles großen menschlichen Thuns bleiben dem Thäter 
selber verhüllt. Wie Martin Luther, da er von der Kirche des Mittel- 
alters sich löste, ahnungslos die Bahn brach für die weltliche Wissenschaft 
unserer Tage, die seinen frommen Sinn empören würde: so hat er auch, 
indem er den Staat von der Vormundschaft der Kirche befreite, die 
Wurzeln jenes römischen Kaiserthums untergraben, das er als treuer 
Unterthan verehrte. Sobald die Mehrheit der Nation der evangelischen 
Lehre sich zuwandte, ward die theokratische Kaiserwürde ebenso unhaltbar 
wie ihre Stütze, das geistliche Fürstenthum. Der gekrönte Schirmvogt 
und die Bischöfe der alten Kirche durften nicht herrschen über ketzerischem 
Volke. Darum wurde schon in den ersten Jahren der Reformation, auf 
dem Reichstage von 1525, die Forderung laut, daß die geistlichen Gebiete
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.