Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Das neue Süddeutschland. 191 
Westen durch einige neue Inseln bereichert, wie die Berliner spotteten. 
Der König fühlte es wohl, ohne Hannover ließen sich in so schwüler Zeit 
die westphälischen Provinzen nicht behaupten. Die Besetzung der welfischen 
Stammlande konnte bald zu einer unumgänglichen Nothwendigkeit werden, 
und doch geschah nichts, den Staat zu rüsten für diese ernste Zukunft. 
Das schlaffe System der landesväterlichen Milde und Sparsamkeit lebte 
so dahin, als sei die Zeit des ewigen Friedens gekommen. 
Währenddem holte der deutsche Süden mit einem gewaltsamen Schlage 
nach was Preußen durch die Arbeit zweier Jahrhunderte langsam erreicht 
hatte. In Norddeutschland war die Mehrzahl der geistlichen Gebiete 
schon während des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts mit den 
weltlichen Nachbarstaaten vereinigt worden; der Reichsdeputationshaupt— 
schluß brachte diesen Staaten nur eine mäßige Vergrößerung ohne ihren 
historischen Charakter zu verändern. Im Südwesten dagegen brach der 
gesammte überkommene Länderbestand jählings zusammen; selbst das ruhm- 
vollste der alten oberdeutschen Territorien, Kurpfalz, wurde zwischen den 
Nachbarn aufgetheilt. Hier führte die Fürstenrevolution nicht bloß eine 
Gebietsveränderung, sondern eine neue Staatengründung herbei. Den 
willkürlich zusammengeworfenen Ländertrümmern, welche man jetzt Baden, 
Nassau, Hessen-Darmstadt nannte, fehlte jede Gemeinschaft geschichtlicher 
Erinnerungen; auch in Baiern und Württemberg war das alte Stamm- 
land der Dynastie bei weitem nicht stark genug um die neuerworbenen 
Landschaften mit seinem Geiste zu erfüllen. So ward unser vielgestal- 
tiges Staatsleben um einen neuen Gegensatz reicher, der sich bis zum 
heutigen Tage nicht völlig verwischt hat. Das neue Deutschland zerfiel 
in drei scharf geschiedene Gruppen. Auf der einen Seite standen die kleinen 
norddeutschen Staaten mit ihrem alten Ständewesen und ihren ange- 
stammten Fürstenhäusern, auf der anderen die geschichtslosen modern- 
bureaukratischen Staatsbildungen Oberdeutschlands, die Geschöpfe des 
Bonapartismus, mitteninne endlich Preußen, das in steter Entwicklung 
den altständischen Staat überwunden hatte ohne seine Formen gänzlich 
zu zerstören. Ueber den Süden brach nun urplötzlich und mit der Roheit 
einer revolutionären Macht der moderne Staat herein. Eine übermüthige, 
dreiste, vielgeschäftige Bureaukratie, die sich Bonaparte's Präfecten zum 
Muster nahm, riß die Doppeladler von den Rathhäusern der Reichsstädte, 
die alten Wappenschilder von den Thoren der Bischofsschlösser, warf die 
Verfassung der Städte und der Länder über den Haufen, schuf aus dem 
Chaos buntscheckiger Territorien gleichförmige, streng centralisirte Ver- 
waltungsbezirke; sie bildete in diesen waffenlosen Landschaften eine unver- 
ächtliche junge Militärmacht, die für Preußen leicht lästig werden konnte, 
sie strebte mit jedem Mittel ein neues bairisches, württembergisches, nassau- 
isches Nationalgefühl großzuziehen. 
Dennoch ist der große Umsturz in seinen letzten Nachwirkungen nicht
	        
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