310 I. 3. Preußens Erhebung.
ungestört ihren Idealen leben konnten; jetzt begannen die Norddeutschen
mit Sehnsucht nach den schönen Landen der Reben und der Sagen hin-
überzuschauen. Wie frohlockte Heinrich Kleist als er aus seinem armen Bran-
denburg in die Berge Süddeutschlands hinaufzog. Erst in diesen roman-
tischen Kreisen sind Land und Leute unsers Südens und Westens wieder
recht zu Ehren gekommen. Die Vorliebe für den Rhein, die jedem Deut-
schen im Blute liegt, wurde zu einem schwärmerischen Cultus, nun da
man ihn in fremden Händen sah. Wie oft wenn die vollen Römergläser
an einander klangen, wiederholte man die Klage Friedrich Schlegel's:
Du freundlich ernste starke Woge,
Vaterland am lieben Rheine,
Sieh, die Thränen muß ich weinen
Weil das Alles nun verloren!
Der Rhein war jetzt Deutschlands heiliger Strom, über jeder seiner
Kirchen schwebte ein Engel, um jedes verfallene Gemäner spielten die Nixen
und Elfen oder die Heldengestalten einer großen Geschichte. Eine Menge
von Liedern und Romanzen, wie sie die Lust des Weines und des Wanderns
eingab, versuchte diese Bilder festzuhalten. Die Balladen der classischen
Dichtung hatten zumeist irgendwo in grauer Vorzeit, auf einem unbe-
stimmten idealen Schauplatze gespielt; jetzt mußte der Dichter auch seinen
kurzen Erzählungen einen bestimmten landschaftlichen Hintergrund, seinen
Figuren ein historisches Costüm geben. Man wollte die Wellen des Rheins
und des Neckars hinter den Sagenbildern des Dichters rauschen hören,
die biderben Sitten der deutschen Altvordern in seinen Helden wiederfinden.
Jener Theil der vaterländischen Geschichte, der allein noch in der Er-
innerung des Volkes lebte, die letzten hundertundfünfzig Jahre waren den
Patrioten widerwärtig als die Zeit der deutschen Zerrissenheit, den Poeten
abschreckend durch die Prosa ihrer Lebensformen. Nur im Mittelalter
sollte die ungebrochene Kraft des deutschen Volksthums sich zeigen, und
man verstand darunter mit Vorliebe den Zeitraum vom vierzehnten bis
zum sechzehnten Jahrhundert. Die fröhlichen Zunftbräuche der alten
Handwerker, das geheimnißvolle Treiben der Bauhütten, die Wanderlust
der fahrenden Schüler, die Abenteuer ritterlicher Wegelagerer — das war
das echte deutsche Leben, und sein Schauplatz lag in den malerischen Ge-
filden des Südwestens, in dem eigentlichen alten Reiche. Bei Alledem
war von einer landschaftlichen Sonderbildung nicht die Rede. Die Nord-
deutschen sammt einigen protestantischen Schwaben und Franken gaben
noch immer den Ton an für das ganze Deutschland; auch die geborenen
Rheinländer unter den Romantikern, Görres, Brentano, die Beoisserees
— die ersten Katholiken, die in der Geschichte unserer neuen Literatur
wieder mitzählten — verdankten ihres Lebens besten Inhalt jener gesammt-
deutschen Bildung, die aus dem Protestantismus erwachsen war. Wer
noch deutsch empfand und dachte wurde von der historischen Sehnsucht