Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Goethe und die Romantik. 317 
Kleist, Arnim und Fouqué, die Humboldt's und L. von Buch standen mit 
obenan unter Deutschlands Dichtern und Gelehrten. Das banausische 
Wesen des alten Preußenthums war endlich völlig überwunden. 
Und seltsam, Niemand hat diese große Wandlung im deutschen Volks— 
gemüthe, das Erstarken des freudigen nationalen Selbstgefühls mächtiger 
gefördert als Goethe. Er that es fast wider seinen Willen, durch ein Werk, 
das ursprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb sein 
Schicksalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigensten und 
geheimsten Empfindungen der Deutschen. Im Jahre 1808 erschien der erste 
Theil des Faust. Goethe war jetzt an sechzig Jahr alt, seit nahezu vier 
Jahrzehnten eine anerkannte Macht im deutschen Leben; eine Wallfahrt 
nach Weimar zu dem würdevollen, feierlich ernsthaften Altmeister gehörte 
längst zu den Anstandspflichten der jungen Schriftsteller. Aber Niemand 
erwartete von dem alten Herrn noch eine schöpferische That, eine Theil- 
nahme an den Kämpfen des neuen Deutschlands; wußte man doch, wie kühl 
und vornehm er die Heißsporne der Romantik von sich abwies. Wohl nahm 
er die Widmung des Wunderhorns freundlich auf und gab der Samm- 
lung den Segenswunsch mit auf den Weg, sie möge in jedem deutschen 
Hause ihren Platz unter dem Spiegel finden. Er selber hatte einst in 
seinen glücklichen Straßburger Zeiten, von Wenigen verstanden, das Lob 
der gothischen Baukunst verkündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren 
seine Saat aufgehen und alle Welt für die alte deutsche Kunst begeistert 
sah, so meinte er befriedigt, die Menschheit zusammen sei erst der wahre 
Mensch, und hatte seine Freude an Sulpiz Beisseree's liebenswürdigem 
Eifer. Doch das aufgeregt phantastische Wesen und das trotzige natio- 
nale Pathos des jungen Geschlechts blieben ihm zuwider. 
Seine Bildung wurzelte in dem weltbürgerlichen alten Jahrhundert. 
Niemals wollte er vergessen, was er und alle seine Jugendgenossen den 
Franzosen verdankten. Kleist's dämonische Unruhe erregte dem Beschau- 
lichen Grauen; in den Briefen an seinen Altersgenossen Reinhard ur- 
theilte er sehr scharf über Arnim's und Brentano's fratzenhaftes Treiben 
und vertheidigte den alten ehrlichen Rationalismus gegen die zweizün- 
gelnde neue Naturphilosophie; ja er hatte Stunden, wo er das Ro- 
mantische kurzab das Krankhafte nannte, im Unterschiede von dem Ge- 
sunden, dem Classischen. Am wenigsten verzieh er den jungen Leuten, 
daß ihre literarische Bewegung zugleich politische Zwecke verfolgte; jedes 
unmittelbare Hinüberwirken der Kunst auf die Prosa des Staatslebens 
war ihm eine Entweihung. Die große Zerstörung, die über Deutschland 
hereingebrochen, nahm er hin als ein unentrinnbares Verhängniß; die 
natürliche Wahlverwandtschaft des Genius hieß ihn fest an Napoleon's 
Glücksstern glauben. Was wußte er auch von Preußen und dem tödtlich 
beleidigten preußischen Stolze? Wie konnte der Sohn der guten alten 
Zeit, der in Frankfurt, Straßburg, Leipzig, Weimar unter einem harmlos
	        
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