Goethe und die Romantik. 317
Kleist, Arnim und Fouqué, die Humboldt's und L. von Buch standen mit
obenan unter Deutschlands Dichtern und Gelehrten. Das banausische
Wesen des alten Preußenthums war endlich völlig überwunden.
Und seltsam, Niemand hat diese große Wandlung im deutschen Volks—
gemüthe, das Erstarken des freudigen nationalen Selbstgefühls mächtiger
gefördert als Goethe. Er that es fast wider seinen Willen, durch ein Werk,
das ursprünglich einem ganz anderen Zeitalter angehörte. Es blieb sein
Schicksalsberuf immer das rechte Wort zu finden für die eigensten und
geheimsten Empfindungen der Deutschen. Im Jahre 1808 erschien der erste
Theil des Faust. Goethe war jetzt an sechzig Jahr alt, seit nahezu vier
Jahrzehnten eine anerkannte Macht im deutschen Leben; eine Wallfahrt
nach Weimar zu dem würdevollen, feierlich ernsthaften Altmeister gehörte
längst zu den Anstandspflichten der jungen Schriftsteller. Aber Niemand
erwartete von dem alten Herrn noch eine schöpferische That, eine Theil-
nahme an den Kämpfen des neuen Deutschlands; wußte man doch, wie kühl
und vornehm er die Heißsporne der Romantik von sich abwies. Wohl nahm
er die Widmung des Wunderhorns freundlich auf und gab der Samm-
lung den Segenswunsch mit auf den Weg, sie möge in jedem deutschen
Hause ihren Platz unter dem Spiegel finden. Er selber hatte einst in
seinen glücklichen Straßburger Zeiten, von Wenigen verstanden, das Lob
der gothischen Baukunst verkündigt. Wenn er jetzt nach langen Jahren
seine Saat aufgehen und alle Welt für die alte deutsche Kunst begeistert
sah, so meinte er befriedigt, die Menschheit zusammen sei erst der wahre
Mensch, und hatte seine Freude an Sulpiz Beisseree's liebenswürdigem
Eifer. Doch das aufgeregt phantastische Wesen und das trotzige natio-
nale Pathos des jungen Geschlechts blieben ihm zuwider.
Seine Bildung wurzelte in dem weltbürgerlichen alten Jahrhundert.
Niemals wollte er vergessen, was er und alle seine Jugendgenossen den
Franzosen verdankten. Kleist's dämonische Unruhe erregte dem Beschau-
lichen Grauen; in den Briefen an seinen Altersgenossen Reinhard ur-
theilte er sehr scharf über Arnim's und Brentano's fratzenhaftes Treiben
und vertheidigte den alten ehrlichen Rationalismus gegen die zweizün-
gelnde neue Naturphilosophie; ja er hatte Stunden, wo er das Ro-
mantische kurzab das Krankhafte nannte, im Unterschiede von dem Ge-
sunden, dem Classischen. Am wenigsten verzieh er den jungen Leuten,
daß ihre literarische Bewegung zugleich politische Zwecke verfolgte; jedes
unmittelbare Hinüberwirken der Kunst auf die Prosa des Staatslebens
war ihm eine Entweihung. Die große Zerstörung, die über Deutschland
hereingebrochen, nahm er hin als ein unentrinnbares Verhängniß; die
natürliche Wahlverwandtschaft des Genius hieß ihn fest an Napoleon's
Glücksstern glauben. Was wußte er auch von Preußen und dem tödtlich
beleidigten preußischen Stolze? Wie konnte der Sohn der guten alten
Zeit, der in Frankfurt, Straßburg, Leipzig, Weimar unter einem harmlos