Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Verhandlungen über die allgemeine Wehrpflicht. 335 
richtswesens getreten, jener perikleische Staatsmann, der zuerst mit voller 
Klarheit erkannte, Preußens Beruf sei „durch wahre Aufklärung und 
höhere Geistesbildung“ den ersten Rang in Deutschland zu behaupten. 
Keiner hatte so wie er in den Ideen und Gestalten der classischen Dich- 
tung geschwelgt und den Becher der Schönheit so bis zur Hefe geleert. 
Keiner unter allen Nordländern stand den Universalgenies des Cinque- 
cento so nahe, wie dieser allseitige Geist, der, heimisch in allen Freuden 
der Sinnlichkeit und auf allen Gebieten des Denkens, zugänglich jedem 
Eindruck und doch immer gesammelt und ganz bei sich selber, „das wahr- 
haft schöne von Kälte und Schwärmerei gleich ferne Dasein“ des ganzen 
Menschen führte. Das Idealbild der freien Persönlichkeit ward Fleisch 
und Blut in diesem Aristokraten des Geistes. Sich selber auszuleben, 
die reiche Fülle seiner Gaben in einem schönen Wechsel von Genuß und 
That harmonisch zu entfalten, in gelassener Sicherheit erhaben über allem 
äußeren Zufall, das Leben selbst zu einem Kunstwerke zu gestalten — 
das war ihm die höchste Weisheit: 
Nicht Schmerz ist Unglück, Glück nicht immer Freude: 
Wer sein Geschick erfüllt, dem lächeln beide. 
Niemals wollte er sich trennen von dem Glauben, daß Schauen und 
Erkennen, Bilden und Dichten den eigentlichen Inhalt der Menschen- 
geschichte bilde, daß in diesem Scheine des Zeitlichen nur die Idee lebe, 
nur „des Geistes Sein, das unverstanden gefangen gehet in der Mensch- 
heit Banden.“" Ganz unbefangen, ohne jede Absicht der Ueberhebung 
schrieb er an Schiller, als Bonaparte's Gestirn soeben aufging: „Der 
Maßstab der Dinge in mir bleibt fest und unerschütterlich; das Höchste 
in der Welt bleiben und sind die Ideen. Hätte ich einen Wirkungskreis 
wie den, der jetzt eigentlich Europa beherrscht, so würde ich ihn doch immer 
nur als etwas jenem Höheren Untergeordnetes ansehen.“ Noch im Alter, 
nach einer langen und reichen staatsmännischen Thätigkeit, sagte er ein- 
mal zu Gottfried Hermann, als er mit dem philologischen Freunde das 
Leipziger Schlachtfeld durchwanderte: „ja sehen Sie, Liebster! Reiche gehen 
zu Grunde, wie wir hier sehen, aber ein guter Vers besteht ewig.““) Ein 
großer Schriftsteller konnte und wollte er nicht werden. Die Kräfte seines 
Geistes hielten einander so vollkommen das Gleichgewicht, daß keine einzige 
als die beherrschende heraustrat; darum fehlte seinem Stile, wie Schiller 
beklagte, die Kunst der Massen, die nothwendige Kühnheit des Ausdrucks. 
In jungen Jahren schon trat er mit den Dioskuren von Weimar 
und mit F. A. Wolf in vertrauten Verkehr, von Allen sogleich als ein 
Ebenbürtiger begrüßt, und lebte sich ein in das Schaffen der beiden Dichter. 
Sein feinsinniges Verständniß drang bis in die verborgenen Falten ihres 
Seelenlebens und ergründete, was noch kein Kritiker vermocht, das große 
Räthsel des künstlerischen Genies, die geheimnißvolle Verbindung von 
*) Nach einer handschriftlichen Aufzeichnung von F. G. Welcker. 
 
	        
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