Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

W. v. Humboldt. 337 
welche dem Leser unwillkürlich einen bestimmten Entschluß abzwingt. 
Nicht ohne Grund nannte ihn Talleyrand 6% sophisme incarné. Von 
den schalen Freuden der vornehmen Welt genoß er nur was seinen 
hellenischen Schönheitssinn reizte; die schwere Kunst sich mit Anstand zu 
langweilen, allerhand unbedeutende Menschen über die Geheimnisse des 
Augenblicks auszuforschen, wollte er niemals lernen. Mit peinlicher Ge- 
wissenhaftigkeit, wie er Alles betrieb, hat er auch seine diplomatischen 
Pflichten erfüllt; doch jene leidenschaftliche Freude am Erfolge, die zu allem 
großen menschlichen Schaffen gehört, kannte er in diesem Berufe nicht. 
Dagegen war Niemand so wie er geeignet für die Leitung des Un- 
terrichtswesens, die ihm der König im Frühjahr 1809 übertrug. Durch 
die kurze Wirksamkeit von fünfviertel Jahren gab er der preußischen Un- 
terrichtsverwaltung jenen humanen, idealistischen Zug, der auch unter 
schwächeren Nachfolgern sich nicht wieder ganz verlieren konnte. Sein 
universaler Geist wußte jeden Zweig der Wissenschaften und Künste in 
seinem Rechte und seiner Eigenart zu würdigen. Selbst dem kirchlichen 
Leben, das seiner ästhetischen Bildung am fernsten lag, brachte er ein so 
unbefangenes humanes Wohlwollen entgegen, daß der streng gläubige 
Nicolovius einträchtig mit diesem Heiden zusammenwirken konnte; der 
Gottesdienst war ihm heilig, weil er alle Glieder der Gesellschaft nur als 
Menschen vereinige. Mit Ehrfurcht trat er an die Fragen des Schul- 
wesens heran; er verwarf die Errichtung von Realschulen, denn die ganze 
Zukunft der Nation schien ihm gefährdet, wenn auch nur ein Theil der 
gebildeten Jugend ohne die methodische Zucht der classischen Studien auf- 
wüchse. Er kannte die Reizbarkeit der Gelehrten und versöhnte sie nicht 
bloß durch urbane Milde und geduldige Nachsicht, sondern vornehmlich 
durch seinen hochherzigen Freisinn; denn er wußte, daß die harte Macht 
des Staates auf dem Gebiete der eigentlichen Cultur nur fördern und 
leiten, doch wenig schaffen kann, daß die schöpferische Kraft des freien 
Gedankens hier schlechterdings Alles ist. Das ganze Geheimniß seiner 
organisatorischen Größe liegt in den einfachen Worten, die er über die 
Einrichtung der Berliner Universität schrieb: „man beruft eben tüchtige 
Männer und läßt das Ganze allmählich sich ancandiren."“ Er kannte 
nur ein Vaterland, das Land der deutschen Bildung, und hielt es für eine 
Ehrenpflicht seines neuen Amts, das Bewußtsein dieser unzerstörbaren 
geistigen Einheit in der mißhandelten Nation zu beleben. Darum stellte er 
die alte Freizügigkeit wieder her, die vor Zeiten der Stolz unserer Universitäten 
gewesen und erst im achtzehnten Jahrhundert durch die Scheelsucht des Parti- 
cularismus verkümmert war, und erlaubte der preußischen Jugend den Besuch 
aller deutschen Hochschulen. Allein durch ihre Leistungen, im freien Wett- 
eifer, sollten Preußens hohe Schulen ihre Anziehungskraft erproben. 
Während der ersten Jahre des neuen Jahrhunderts hatte die Uni- 
versität Halle einen vielverheißenden Aufschwung genommen. Sie war 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 22
	        
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