Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Königreich Westphalen. 363 
Wer auf dem Lande wohnte war paysan. Der vielgeplagte „Rusticalstand“ 
befand sich in mancher Hinsicht wohler als vormals unter dem Regimente 
der hannoverschen Junker und der hessischen Soldatenverkäufer. Noch 
heute hat sich unter den kleinen Leuten des Göttinger Landes der Name 
Pisänger erhalten. Die Bauern fühlten sich geehrt, wenn ihre Repräsen— 
tanten im Schlosse zu Cassel unter den vornehmen Herren erschienen und 
von der Wache mit präsentirtem Gewehr begrüßt wurden. Nach Jahren 
noch gestanden die Pächter im Magdeburgischen dem preußischen Minister 
Klewitz treuherzig, eine solche Verfassung möchten sie wohl wieder haben.“) 
Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht 
die Rede. Die Treue zu den alten heimischen Herren wankte nicht, und 
wie sollte der Bauer Vertrauen fassen zu Beamten, deren Sprache er 
nicht verstand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Westphalen wie in 
Berg mehrere stolze Adelsgeschlechter durch Untreue ihre alten Namen 
schändeten, so sah doch die ungeheure Mehrheit des Volkes mit steigendem 
Abscheu auf die Herrschaft der Fremden. Die wüsten Orgien des flachen, 
leichtfertigen Jerome, die Frechheit der französischen Gauner und Abenteurer, 
welche seine Verschwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menschenopfer 
der unablässigen Kriege, die hündische Schmeichelei gegen „den, vor dem 
die Welt schweigt" — wie Johannes Müller in einer seiner parlamen— 
tarischen Schaureden sagte — die schlechten Künste der geheimen Polizei, 
die Verfolgung der Deutschgesinnten und die Verhöhnung der Mutter- 
sprache, „die Euch in Europa isolirt" — Alles, Alles an diesem aus- 
ländischen Wesen erschien dem kerndeutschen Volke gehässig und verächtlich, 
wie ein tolles Faschingsspiel, das binnen Kurzem spurlos verschwinden 
müsse. Jerome fühlte bald selbst, wie der Boden unter seinen Füßen 
schwankte; um so straffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen. Der 
wohlmeinende Minister Bülow, ein Vetter Hardenberg's, mußte dem 
Unwillen der französischen Partei weichen; an seine Stelle trat Malchus, 
ein gescheidter und geschäftskundiger, aber harter und gewissenloser Mann, 
dem Herrscher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rhein- 
bündischen Beamten. · 
Dabei waren die Napoleoniden selber keinen Augenblick sicher vor 
den Gewaltschlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver— 
schenkers. Murat hatte sein rheinisches Herzogthum von vornherein nur 
als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder 
auf, als sein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich 
zwischen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: „das muß in 
einem Tage abgethan werden!“ Das deutsche Ländchen wurde nunmehr 
dem unmündigen Sohne Ludwig's von Holland — das will sagen: dem 
Imperator selber — zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war 
unterdessen seit dem preußischen Kriege vorläufig unter französischer 
*) Klewitz's Bericht über seine Rundreise in der Provinz Sachsen v. 29. Juli 1817. 
 
	        
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