Königreich Westphalen. 363
Wer auf dem Lande wohnte war paysan. Der vielgeplagte „Rusticalstand“
befand sich in mancher Hinsicht wohler als vormals unter dem Regimente
der hannoverschen Junker und der hessischen Soldatenverkäufer. Noch
heute hat sich unter den kleinen Leuten des Göttinger Landes der Name
Pisänger erhalten. Die Bauern fühlten sich geehrt, wenn ihre Repräsen—
tanten im Schlosse zu Cassel unter den vornehmen Herren erschienen und
von der Wache mit präsentirtem Gewehr begrüßt wurden. Nach Jahren
noch gestanden die Pächter im Magdeburgischen dem preußischen Minister
Klewitz treuherzig, eine solche Verfassung möchten sie wohl wieder haben.“)
Trotzdem war von Anhänglichkeit auch unter dem Landvolke nicht
die Rede. Die Treue zu den alten heimischen Herren wankte nicht, und
wie sollte der Bauer Vertrauen fassen zu Beamten, deren Sprache er
nicht verstand? Wenngleich Einzelne abfielen und in Westphalen wie in
Berg mehrere stolze Adelsgeschlechter durch Untreue ihre alten Namen
schändeten, so sah doch die ungeheure Mehrheit des Volkes mit steigendem
Abscheu auf die Herrschaft der Fremden. Die wüsten Orgien des flachen,
leichtfertigen Jerome, die Frechheit der französischen Gauner und Abenteurer,
welche seine Verschwendung mißbrauchten, die furchtbaren Menschenopfer
der unablässigen Kriege, die hündische Schmeichelei gegen „den, vor dem
die Welt schweigt" — wie Johannes Müller in einer seiner parlamen—
tarischen Schaureden sagte — die schlechten Künste der geheimen Polizei,
die Verfolgung der Deutschgesinnten und die Verhöhnung der Mutter-
sprache, „die Euch in Europa isolirt" — Alles, Alles an diesem aus-
ländischen Wesen erschien dem kerndeutschen Volke gehässig und verächtlich,
wie ein tolles Faschingsspiel, das binnen Kurzem spurlos verschwinden
müsse. Jerome fühlte bald selbst, wie der Boden unter seinen Füßen
schwankte; um so straffer hieß ihn Napoleon die Zügel anziehen. Der
wohlmeinende Minister Bülow, ein Vetter Hardenberg's, mußte dem
Unwillen der französischen Partei weichen; an seine Stelle trat Malchus,
ein gescheidter und geschäftskundiger, aber harter und gewissenloser Mann,
dem Herrscher ein gefügiges Werkzeug, in Allem das Ideal des rhein-
bündischen Beamten. ·
Dabei waren die Napoleoniden selber keinen Augenblick sicher vor
den Gewaltschlägen des unermüdlichen Kronenräubers und Kronenver—
schenkers. Murat hatte sein rheinisches Herzogthum von vornherein nur
als eine vorläufige Abfindung betrachtet und gab es bereitwillig wieder
auf, als sein Schwager ihm nach einigen Jahren befahl, augenblicklich
zwischen den Kronen von Neapel und Portugal zu wählen: „das muß in
einem Tage abgethan werden!“ Das deutsche Ländchen wurde nunmehr
dem unmündigen Sohne Ludwig's von Holland — das will sagen: dem
Imperator selber — zugetheilt. Der nördliche Theil von Hannover war
unterdessen seit dem preußischen Kriege vorläufig unter französischer
*) Klewitz's Bericht über seine Rundreise in der Provinz Sachsen v. 29. Juli 1817.