Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Erster Teil. Bis zum zweiten Pariser Frieden. (24)

Der neue Mehrer des Reichs. 33 
So erwies sich die neue Staatsbildung schon in ihren Anfängen 
als eine europäische Nothwendigkeit. Deutschland aber fand endlich wieder 
einen Mehrer des Reichs. Mit dem Aufsteigen Preußens begann die 
lange blutige Arbeit der Befreiung Deutschlands von fremder Herrschaft. 
Seit hundert Jahren von den Nachbarn beraubt sah das Reich jetzt zum 
ersten male das ausländische Regiment von einigen Schollen deutscher 
Erde zurückweichen. In diesem einen Staate erwachte wieder, noch halb 
bewußtlos, wie trunken vom langen Schlummer, der alte herzhafte vater- 
ländische Stolt. Das treue Landvolk der Grafschaft Mark begann den 
kleinen Krieg gegen die Franzosen, die Bauern von Ostpreußen setzten 
in wilder Jagd den fliehenden Schweden nach. Wenn die Bauernland- 
wehr der Altmark, an den Elbdeichen Wache haltend wider die Schweden, 
auf ihre Fahnen schrieb: „Wir sind Bauern von geringem Gut und 
dienen unserm gnädigsten Kurfürsten und Herrn mit Gut und Blut,-" 
so klingt uns aus den ungelenken Worten schon derselbe Heldensinn 
entgegen, welcher dereinst in freieren Tagen Deutschlands Schlachten 
schlagen sollte unter dem Rufe: „Mit Gott für König und Vaterland!“ 
Während die Hausmacht der Habsburger aus Deutschland hinaus 
wuchs, drängte ein stetig waltendes Schicksal den Staat der Hohen- 
zollern tief und tiefer in das deutsche Leben hinein, zuweilen wider den 
Willen seiner Herrscher. Friedrich Wilhelm hat es nie verwunden, daß 
er seine pommerschen Erbansprüche im Westphälischen Frieden gegen den 
Widerstand Oesterreichs und Schwedens nicht behaupten konnte. Er 
hoffte als ein König der Vandalen von dem Stettiner Hafen aus die 
Ostsee zu beherrschen und mußte sich mit den sächsisch-westphälischen 
Stiftslanden, zum Ersatz für die Odermündungen, begnügen. Doch 
selbst diese diplomatische Niederlage ward ein Glück für den Staat; sie 
bewahrte ihn vor einem halbdeutschen baltischen Sonderleben, verstärkte 
seine centrale Stellung und zwang ihn theilzunehmen an allen Händeln 
der binnendeutschen Politik. Zudem war ganz Norddeutschland über- 
sponnen von einem Netze hohenzollerscher Erbverträge, die dies bedacht- 
sam rechnende Haus im Laufe der Jahrhunderte abgeschlossen; an jedem 
neuen Tage konnte ein Todesfall der ehrgeizigen Macht eine neue Ver- 
größerung bringen. 
Das Haus Habsburg erkannte früher als die Hohenzollern selber, 
wie feindselig dieser moderne norddeutsche Staat der alten Verfassung 
des heiligen Reichs gegenüberstand. Es war das Haupt des Protestan- 
tismus im Reiche, mochte immerhin Kursachsen noch Director des Corbus 
Evangelicorum heißen; er bedrohte mit seiner monarchischen Ordnung 
den ganzen Bau jener ständischen und theokratischen Institutionen, welche 
die Kaiserkrone stützten; ein starkes Heer und sein selbständiges Auf- 
treten in der Staatengesellschaft gefährdeten das altgewohnte System 
kaiserlicher Hauspolitik. In Schlesien, in Pommern, in dem jülich- 
v. Treitschke, Deutsche Geschichte. 1. 3
	        
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