20 I. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
eines verhängnisvollen Jahrestags, und der verwunderte Leser trug, statt
der erhebenden Einsicht in die Vernunft der sittlichen Welt, nur ein Ge—
fühl ratlosen Entsetzens davon. Da die Neuheit dieses tollen Einfalls
Aufsehen erregte und die romantische Welt ohnehin geneigt war, im Aber-
witze den tiefsten Sinn zu suchen, so fand sich bald ein geschickter Macher,
der die Schrulle nach deutscher Unart in ein System brachte. Der Weißen-
felser Advokat Adolf Müllner verfaßte ein Drama „die Schuld“ und
entwickelte dann in ungezählten Kritiken die Theorie der neuen Schick-
salstragödie: eine höhere Weltordnung, rätselhafter noch als das blinde
Schicksal der Alten, sollte in das irdische Leben hineinragen und durch
den albernen Zufall, durch eine zerspringende Saite, einen unheilvollen
Ort oder Tag, die nichts ahnenden Sterblichen in das Verderben stürzen.
So ward denn alles, was die protestantische Welt je über tragische Schuld
und Zurechnung gedacht, durch die zügellose Neuerungssucht der romanti-
schen Doktrin wieder in Frage gestellt, und es schien, als sollte unsere
tragische Kunst geradezu in Selbstvernichtung enden. Müllner richtete
sich in drei literarischen Zeitschriften zugleich häuslich ein, pries mit lautem
Marktgeschrei die lange Reihe seiner eigenen Werke und erschreckte die
Gegner durch unflätige Grobheit, so daß Goethe zürnte: „Der Edle
mault nur um das Maul den andern zu verbieten.“ Einige Jahre lang
behauptete der grundprosaische Mensch den angemaßten Thron; und so
fest stand noch das Ansehen der deutschen Dichtung in der Welt, daß
selbst ausländische Blätter gläubig von der neuen dramatischen Offen-
barung sprachen. Dann verfiel auch die Schicksalstragödie dem unab-
wendbaren Lose der gespreizten Nichtigkeit: das Publikum begann sich zu
langweilen und wendete sich anderen Moden zu.
Unter dem Verfalle der dramatischen Dichtung litt auch die Schau-
spielkunst. Wie viele geistvolle Abhandlungen über das Theater als natio-
nale Erziehungsanstalt waren nun schon erschienen, und doch hatte bisher
unter allen deutschen Staatsmännern nur Stein sich diesen Gedanken
angeeignet und daraus den Schluß gezogen, daß der Staat zur Pflege der
Bühne verpflichtet sei. Er stellte, als er bei seinem Abgange die veränderte
Organisation der preußischen Behörden vorzeichnete, die Theater gleich der
Akademie der Künste unter das Departement des Kultus und des Unter-
richts; doch kaum zwei Jahre später wurden sie durch Hardenberg wieder
in die Reihe der öffentlichen Vergnügungsanstalten verwiesen und, mit
Ausnahme der Hoftheater, der Aufsicht der Polizei unterworfen. Die
Unterstützung der großen Bühnen in den Residenzstädten galt allgemein
als persönliche Ehrenpflicht der Landesherren, und es zeigte sich bald,
daß diese Theater von der Freigebigkeit kunstfreundlicher Fürsten immerhin
noch mehr zu erwarten hatten, als von der sparsamen Kleinbürgergesin-
nung der neuen Landtage. Kaum war die Stuttgarter Bühne im Jahre
1816 zum Nationaltheater erhoben und dem Staatshaushalt überwiesen