36 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
teutonischen Schwarmgeister sich gleichgiltig von dem Bilde Friedrichs ab—
wendeten, zeigte Goethe zuerst in ergreifenden Worten, wie fest die neue
Kunst mit dem preußischen Heldenruhme verwachsen war: an Talenten
war in Deutschland niemals Mangel, doch der nationale Gehalt, der
eigentliche Lebensinhalt kam unserer Dichtung erst durch Friedrichs Taten.
So wenig war der Dichter seinem Volke innerlich untreu geworden. Heute
gibt es nur noch eine heilige Sache: — so äußerte er einst in jenen
schweren Tagen — im Geiste zusammenzuhalten und in dem allgemeinen
Ruin das Palladium unserer Literatur zu bewahren!
Ein qualvoller, ungesunder Zustand blieb es doch, daß er zu dem
erwachenden politischen Leben seines Volkes so gar kein Vertrauen fassen
konnte. Schmerzlich genug erprobte er die Wahrheit seines eigenen Aus-
spruchs: der Dichter sei seiner Natur nach unparteiisch und könne in
Zeiten politischer Leidenschaft einem tragischen Schicksal kaum entgehen.
Auf Augenblicke überkam ihn wohl die Ahnung einer glücklicheren Zukunft.
Als die große Armee nach Rußland zog und die Verzagten meinten, nun-
mehr sei das Weltreich vollendet, da erwiderte er: wartet ab, wie viele
wiederkommen werden! Aber als nun wirklich nur armselige Trümmer
jener endlosen Züge zurückkehrten und das preußische Volk sich wie ein
Mann erhob, da graute dem Dichter doch vor dem aufgeregten Wesen
der „unartigen Freiwilligen“. Er vergaß es nie, wie wenig die Deut-
schen einst den hohen patriotischen Sinn von Hermann und Dorothea-
verstanden hatten, und traute seinem Volke die nachhaltige Kraft des
politischen Willens nicht zu; er hatte von jeher mit der alten Kultur des
Westens seine Gedanken ausgetauscht und sah jetzt mit unheimlichen
Ahnungen, wie die Völker des Ostens „Kosaken, Kroaten, Kassuben und
Samländer, braune und andere Husaren“ über das friedliche Mitteldeutsch-
land dahinfegten. Seinem Sohne verbot er streng, in das Heer der Ver-
bündeten einzutreten und mußte dann noch erleben, wie der leidenschaft-
liche Jüngling, beschämt und verzweifelt, plötzlich umschlug und im Hause
des Vaters eine abgöttische Verehrung für Napoleon zur Schau trug.
Erst die Friedensbotschaft erlöste den Dichter aus seiner dumpfen Ver-
stimmung; er atmete erleichtert auf und schrieb zur Friedensfeier das Fest-
spiel „des Epimenides Erwachen", um nach seiner Weise durch ein poetisches
Bekenntnis seine Brust vollends zu befreien. Die Masse, die mit Recht
bei solchem Anlaß ein volkstümliches, gemeinverständliches Werk erwartete,
wußte mit den symbolischen Gestalten nichts anzufangen; wer aber den
Sinn der Fabel zu enträtseln vermochte, hörte tief erschüttert mit an,
wie der träumerische Weise, „der diese Nacht des Jammers überschlief",
den siegreichen Kämpfern bekannte: er schäme sich seiner Ruhestunden,
„denn für den Schmerz, den ihr empfunden, seid ihr auch größer als
ich bin!" Es war ein Geständnis, das jeden Tadel beschämte; doch kei-
neswegs eine Demütigung, denn zugleich dankte Epimenides den Göttern,