Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

64 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre. 
wurde nicht nur der Begründer der neuen kritischen Geschichtschreibung 
durch die geniale Selbständigkeit seiner Forschung, die überall bis zu den 
letzten Quellen der Überlieferung vordrang, er stellte auch den Staat 
wieder, wie ihm gebührt, breit in die Mitte der historischen Bühne und 
bewährte durch die Tat die Ansicht der Griechen, daß der Historiker vor 
allem ein politischer Kopf sein soll. Er wußte, wie rasch die Kultur und 
die sittliche Kraft der Völker dahinwelkt, wenn ihnen die Macht fehlt sich 
die Achtung der Welt zu erzwingen, und schilderte mit schonungsloser Härte 
die Verkümmerung des deutschen Charakters durch das leere Scheinleben 
der Kleinstaaterei: wie kleinlich, afterrednerisch, verunglimpfend sei dies 
Geschlecht geworden, „Ehren ist ihm ein entsetzlich drückendes Gefühl.“ 
In der engen Welt des Altertums und des Mittelalters konnten kleine 
Staaten sich als Träger der Gesittung behaupten; heutzutage „ist nur 
noch in großen Staaten, die das Gleichartige zusammenfassen, volles 
Leben möglich". Seine Ansicht vom Staate hatte er sich durch das Leben 
gebildet, durch das Anschauen der uralten Bauernfreiheit seiner Heimat 
Ditmarschen, durch Reisen in England und Holland, durch lange Tätig- 
keit als Bankdirektor und Verwaltungsbeamter. So ward er wie Stein 
ein abgesagter Feind aller politischen Systemsucht und fand wie Jener 
den Eckstein der Freiheit in der Selbstverwaltung, die den Bürger ge- 
wöhne mannhaft auf eigenen Füßen zu stehen und das Regieren, nach 
der Weise der Alten, handanlegend zu lernen. Es kommt, so schloß er, 
mehr darauf an, ob die Untertanen in den einzelnen Gemeinden sich 
unmündig befinden, als darauf, ob die Grenzen zwischen der Gewalt der 
Regierung und der Repräsentation etwas weiter vorwärts oder zurück ge- 
zogen sind. Daher erkannte er sogleich, daß Frankreich trotz der Charte 
der Bourbonen noch immer ein Land des Despotismus war, da die 
napoleonische Verwaltungsordnung unverändert fortbestand. Um seine 
Landsleute vor der einseitigen Uberschätzung der konstitutionellen Staats- 
formen zu warnen und sie wieder an die gesunden Grundgedanken des 
Steinschen Reformwerks zu erinnern, gab er gleich nach dem Frieden 
jene Abhandlung Vinckes über die englische Verwaltung, die einst unter 
Steins Augen entstanden war,') heraus und sagte in seinem Vorwort, 
zum Entsetzen der liberalen Welt, rundweg: „die Freiheit beruht ungleich 
mehr auf der Verwaltung als auf der Verfassung.“ 
Auch seine Römische Geschichte war ebensosehr ein erlebtes Werk 
als ein Erzeugnis der gelehrten Forschung; darum zählten sie schon die 
Zeitgenossen zu jenen klassischen Büchern, welche niemals überwunden 
werden auch wenn sie in jedem einzelnen Satze widerlegt sind. Indem 
er das Verschwundene ins Dasein zurückrief genoß er die Seligkeit des 
Schaffens; und wie er niemals nur mit einer Kraft seiner Seele tätig 
sein konnte, so legte er auch die ganze Innigkeit seiner leidenschaftlichen 
*) I. 274.
	        
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