86 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
gepredigt hatte. Als Fouqués Regiment im Frühjahrsfeldzuge 1813
nahe der Landskrone ein Gefecht bestand, da rief der romantische Poet
in seiner Verzückung: hier sei es schön zu sterben, im Angesichte des hei—
ligen Berges, auf dessen Gipfel der Herrgott zuerst dem Schuster von
Görlitz erschienen! —
Wo waren sie hin, jene Tage der allmächtigen Aufklärung, da der
Gegensatz der Glaubensbekenntnisse ganz verbleicht, alles kirchliche Leben
durch die weltliche Bildung überwuchert schien und der mögliche Unter—
gang des Christentums von Freund und Feind schon mit philosophischer
Gelassenheit besprochen wurde! Die erschütternden Erfahrungen des Zeit—
alters der Revolution hatten in allen Völkern das schlummernde religiöse
Gefühl mächtig aufgeregt; aber mit dem lebendigen Glauben erwachten
auch hierarchische Bestrebungen, die man längst erstorben wähnte, und
die finsteren Leidenschaften des Glaubenshasses, des Fanatismus, des
Aberglaubens. Das neue Jahrhundert erwies sich mit jedem Jahre mehr,
im scharfen Gegensatze zu seinem Vorgänger, als ein Zeitalter endlosen
kirchlichen Unfriedens, so zerklüftet und verworren wie kaum ein zweites
Jahrhundert der Kirchengeschichte: reich an gesundem religiösem Leben, doch
ebenso reich an Unglauben, Weltsinn, Gleichgültigkeit, Verzweiflung; voll
stiller Sehnsucht nach einer reineren Form des Christentums und doch
unfähig zur Versöhnung der erbitterten kirchlichen und kirchenfeindlichen
Parteien, die immer nur durch das Gefühl der eigenen Schwäche und
durch das gebieterische Ruhebedürfnis des bürgerlichen Lebens in Schran—
ken gehalten wurden. Nirgends erscheint das Gewirr dieser kirchlichen
Gegensätze so bunt und vielgestaltig wie in dem Heimatlande der Re—
formation, das von jeher gewohnt, war, die Fragen des Glaubens mit
schwerem Ernst zu behandeln, die überzeugung des Gewissens freimütig
auszusprechen. Die deutsche Nation zerfiel in ehrliche Gläubige und ehr-
liche Freidenker; die Zahl der Heuchler blieb hier immer gering.
Da die Durchschnittsbildung stets um einige Schritte hinter dem
Stande der Wissenschaft zurückbleibt, so herrschte in der Masse der evan-
gelischen Geistlichkeit und in der gebildeten Laienwelt noch immer jener
bequeme, menschenfreundliche Rationalismus, der mit seinem harten Ver-
stande kurzerhand alles „Unvernünftige“ von den Dogmen losschälte und
in seiner Selbstzufriedenheit gar nicht bemerkte, daß er mit der Schale
auch den Kern des christlichen Glaubens verloren hatte: auch die tief-
sinnigen Lehren von der Sünde und der Erlösung, welche dem germanischen
Gemüte allezeit die teuersten waren. Durch diese Heilslehre hatte einst
das Christentum zuerst den Weg gefunden zu den Herzen der Germanen,
die allein unter allen Heidenvölkern schon an die dereinstige Wiedergeburt
der sündigen Welt glaubten; von dem zerknirschenden Bewußtsein der
eigenen Sünde war Luther ausgegangen, als er die Reinigung der ver-
weltlichten Kirche unternahm; und wie nachdrücklich hatte noch Kant von