Full text: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert. Zweiter Teil. Bis zu den Karlsbader Beschlüssen. (25)

Der Rationalismus. 87 
der radikalen Sündhaftigkeit des Menschengeschlechts gesprochen. Der 
gemeine Rationalismus bewahrte kaum noch eine schwache Erinnerung 
an diese christlichen Grundgedanken, sondern glaubte harmlos an die 
Güte der menschlichen Natur und beruhigte sich bei einer weltlichen Werk— 
heiligkeitslehre: die bürgerliche Rechtschaffenheit des Wandels genügte ihm 
zur Seligkeit. Gleichwohl besaß er weder den Mut noch die wissenschaft— 
liche Kraft um den steilen Weg, welchen einst Lessing und der Wolfen— 
bütteler Fragmentist gewiesen, weiter zu verfolgen und sich die kritische 
Methode der neuen philologischen Sagenforschung anzueignen; er wagte 
nicht den historischen Ursprung des Neuen Testaments ernsthaft zu unter— 
suchen, sondern nahm die Bibel als ein Gegebenes hin und begnügte sich 
ihre Aussprüche so lange umzudeuteln, bis sie mit den Naturgesetzen im 
Einklang zu stehen schienen. 
Der lauteste und unduldsamste Vorkämpfer dieser Richtung war Paulus 
in Heidelberg, einige Jahre vor Schelling in dem nämlichen Pfarrhause 
zu Leonberg in Schwaben geboren, der Todfeind dieses seines Lands— 
mannes und aller Lehren, welche irgend über den platten Verstand hinaus- 
reichten. Wie fühlte er sich glücklich in seinem Freisinn, wenn er die Auf- 
erstehung für ein Erwachen vom Scheintode, das Wunder von Kana für 
den gelungenen Spaß eines vergnügten Hochzeitsgastes erklärte. Mancher 
rationalistische Lehrer rief sogar die Geheimlehren der Naturphilosophen zu 
Hilfe und schilderte den Heiland als einen magnetischen Arzt; das natür- 
liche Wunder erschien diesen Köpfen immerhin noch erträglicher als das 
übernatürliche. Die glaubensfreudigen alten Kirchenlieder erschreckten die 
nüchterne Mattherzigkeit; sie wurden durch läppische Anderungen verdünnt 
oder gänzlich aus den Gesangbüchern entfernt. Wie viel sittsamer als das 
gewaltige „O Ewigkeit, du Donnerwort"“ klang doch das neue wohlerzogene 
Rationalistenlied: „ich sterb'’ im Tode nicht, mich überzeugen Gründel!“ Von 
jeher hatte die evangelische Kirche den Kultus neben der Lehre vernachlässigt. 
Unter der Herrschaft des Rationalismus verschwand aus dem Gottes- 
dienste vollends alles was das Gemüt erquickte und die Phantasie er- 
regte; die geistliche Lehre aber sank zur weltlichen Belehrung herab. Die 
Kanzelredner verstanden nicht mehr die beladenen Gewissen zu erbauen 
und zu erheben, ihnen Trost zu spenden aus der Fülle der Verheißung; 
sie ergingen sich in breiten moralischen Betrachtungen, sie erläuterten was 
sich der vernünftige Christ bei den einzelnen Dogmen zu denken habe, 
und verschmähten sogar nicht an geweihter Stätte wohlgemeinte Anwei- 
sungen für den Kartoffelbau und die Schafzucht zu geben. Ihre Gottes- 
häuser verödeten, die guten Köpfe vermochten in dieser dünnen Luft nicht 
mehr zu atmen. Die Pflichten der Seelsorge wurden vernachlässigt; jeder 
nichtige Vorwand reichte aus um die Erlaubnis zur Ehescheidung bei den 
aufgeklärten Pfarrern und Konsistorien zu erlangen. Auch der alte offen- 
barungsgläubige Supranaturalismus, der namentlich in Württemberg unter
	        
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