90 II. 3. Geistige Strömungen der ersten Friedensjahre.
gefühl nur in der Gemeinschaft der Gläubigen wach erhalten werden kann.
In der Moral ließ er, freier als Kant, die Persönlichkeit zu ihrem vollen
Rechte gelangen: nicht die Unterdrückung der Natur, sondern ihre Ver—
klärung durch den lebendigen Geist hieß ihm sittlich; auch verhehlte er
nicht, daß die Tugenden der christlichen Selbstverneinung an den antiken
Tugenden der Selbstbehauptung ihre Ergänzung finden müssen. Die
Schwächen seiner Lehre verrieten sich freilich sobald er versuchte nachzu—
weisen, welche Tatsachen der heiligen Geschichte notwendig im christlichen
Bewußtsein enthalten seien; dann geriet er ins Künsteln und mußte
erfahren, wie unmöglich es ist, die positiven Dogmen unmittelbar aus
der Idee abzuleiten. Aber wie wenig bedeuteten ihm die Dogmen und
die Formen des Kultus neben dem Segen der religiösen Gemeinschaft!
Als die Kämpfe um die evangelische Union entbrannten, ward er der
tapferste Verteidiger der freien Kirchenverfassung und der Vereinigung
der protestantischen Bekenntnisse.
Auch unter den Laien bekundeten sich überall die Anzeichen eines
regeren christlichen Lebens, das der Herrschaft des Rationalismus ent-
wuchs. Es ließ sich doch nicht vergessen, wie andächtig einst in den Tagen
der großen Siegesbotschaften das deutsche Heer den Worten des Dichters
gelauscht hatte: „kannst fassen Du den reichen Segen von nah und fern?
bist Du nicht fast davor erlegen, Du Volk des Herrn?“ Selbst die
Weltkinder hatten damals die alte, einfältige Wahrheit, daß nur fromme
Völker frei und tapfer sind, in tiefster Seele empfunden. Aus den
schwungvollen Liedern vom „alten, deutschen Gott“ sprach zwar nirgends
eine bestimmte konfessionelle Parteigesinnung, aber eine innige Freudigkeit
des Gottesbewußtseins, die mit der Gemütsarmut des Rationalismus
nichts gemein hatte. Den meisten der Männer, welche jene Zeit des
Gottesgerichts mit klarem Bewußtsein durchlebt, blieb allezeit eine geho-
bene religiöse Stimmung, mochten sie nun wie Stein, Arndt, Savigny,
Aster, in dem Glauben ihrer Väter den Frieden finden oder, wie Niebuhr,
sehnsüchtig nach dem Glauben suchen. Die streitbare Jugend vollends trug
Silberkreuze auf den teutonischen Mützen und erging sich in christlicher
Begeisterung; seit dem Zeitalter der Reformation hatten die deutschen
Universitäten nicht mehr ein Studentengeschlecht gesehen, das die religiösen
Fragen so ernst nahm. Wohl hielt sich die Christlichkeit der feurigen
Teutonen nicht frei von widerwärtiger Prahlerei noch von puritanischer
Geschmacklosigkeit: das Gebet bei der Eröffnung des Kneipabends hinderte
nicht immer, daß die weihevoll begonnene Versammlung zuletzt in ein
wildes Zechgelage ausartete; und mit vollem Rechte schritt das Berliner
Publikum handgreiflich gegen die jungen Barbaren ein, als die Studen-
ten, bei der Aufführung von Zacharias Werners Weihe der Kraft, den
auftretenden Martin Luther mit dem Drohrufe „der Reformator von der
Bühne!“ begrüßten. Manchem der lärmenden Christo-Germanen diente