Die Circumseriptionsbulle für Preußen. 207
Uebermaße ausgerüstet. Dennoch fühlte sie sich unsicher, denn befangen
in dem protestantischen Gesichtskreise des Nordostens vermochte sie nicht
zu verstehen, welche folgenschwere Wandlung sich in den Gesinnungen der
katholischen Welt allmählich vorbereitete. —
Das classische Zeitalter unserer Literatur hatte den deutschen Katho-
licismus nur oberflächlich berührt, doch ihn immerhin mit einigen prote-
stantischen Ideen befruchtet und durch das neue Ideal der Humanität
überall die Schroffheit der confessionellen Gesinnung gemildert. Erst
die romantische Schule weckte wieder den Schaffensdrang in dieser schlum-
mernden Welt und führte eine dichte Schaar begabter Katholiken in die
Reihen unserer Dichter und Denker ein. Sie wirkte verbindend, indem
sie die Ergebnisse einer wesentlich protestantischen Gedankenarbeit dem
katholischen Deutschland mittheilte; aber leider erst trennend, denn alle
Religion ist positiv. Mit der Kraft des religiösen Gefühls, das sich seit
Schleiermacher's erstem Auftreten, seit den erschütternden Erfahrungen
der Befreiungskriege so mächtig erhob, erwachte daher auch in ungeahnter
Stärke das Bewußtsein der kirchlichen Gegensätze. In dem widerspruchs-
vollen deutschen Leben zeigte der Stammbaum der Ideen zu allen Zeiten
seltsame Verästelungen. Wie oft war es schon geschehen, daß grund-
verschiedene geistige Mächte von demselben Aste sich abzweigten oder auch auf
kurze Zeit mit einander verwuchsen, um dann wieder auseinanderzugehen.
So sproßte jetzt aus dem kräftigen Zweige der Romantik neben der weltlich
freien historisch-philologischen Forschung zu gleicher Zeit ein ganz anderes
Reis hervor, eine streng katholische Wissenschaft, unduldsam, streitbar,
confessionell von Grund aus, eine Weltanschauung, die in nothwendigem
Wachsthum schließlich dahin gelangte, das romantische Ideal mit dem
römischen zu vertauschen und die gesammte moderne deutsche Bildung bis
aufs Blut zu bekämpfen. Abermals wie einst in den Zeiten der Gegen-
reformation verstand die römische Kirche dem Protestantismus mit seinen
eigenen Waffen entgegenzutreten, mit den Waffen, welche ihr Friedrich
Schlegel und die anderen Convertiten des romantischen Dichterkreises
zuerst geschliffen hatten.
Auf den Hochschulen Tübingen und Freiburg war die katholische
Theologie durch die protestantischen Landesherren mit Lehrkräften und Lehr-
mitteln reich ausgestattet worden. Unter dem Schutze einer akademischen
Freiheit, welche den katholischen Universitäten des achtzehnten Jahrhunderts
fast unbekannt gewesen, entfaltete sie nunmehr eine achtungswerthe ge-
lehrte Thätigkeit. Sie brach gänzlich mit der lateinischen Bildung des
alten Jesuitismus und eignete sich die Sprache der neuen Literatur, das
vormals streng verpönte lutherische Deutsch gelehrig an; sie handhabte
für ihre Zwecke das ganze Rüstzeug der protestantischen Kritik — so weit
Kritik möglich war im Bereiche der Kirche der Autorität — und nicht
lange, so übertraf der deutsche Katholicismus durch wissenschaftliche